Die Pandemie belastet die Psyche von Schülerinnen, Schülern und auch Lehrkräften zusätzlich. Deswegen ist es umso wichtiger, die seelische Gesundheit im Schulalltag zu stärken. Wie das Programm MindMatters dabei helfen kann, zeigt ein Besuch an der berufsbildenden Schule Julius Wegeler (JWS) in Koblenz.
Der Außerirdische auf dem Plakat sieht bisher nur Fragezeichen. Celine, Lucy, Mais, Judith und Jil haben das grüne Männchen auf einen großformatigen Papierbogen gemalt, daneben steht die Frage „Was ist Stress?“. Jetzt überlegen sie laut, wie sie ihm das am besten erklären könnten. „Für mich ist Stress eine Reaktion auf zu viele Anforderungen auf einmal“, findet Mais. „Man ist dann angespannt und irgendwie abwesend“, sagt Celine. „Ich atme schneller, wenn ich gestresst bin“, ergänzt Jil. „Kleinigkeiten bringen mich dann zum Ausflippen.“
In dieser elften Klasse des beruflichen Gymnasiums an der JWS in Koblenz steht gerade Psychologie auf dem Stundenplan. Heute greift Lehrerin Christina Herz auf Elemente des Programms Mind-Matters zurück. Dieses modulare Präventivangebot soll die psychische Gesundheit als wichtige Ressource im Schulalltag fördern.
„Das Modul ‚Umgang mit Stress‘ ermöglicht uns Lehrkräften einen Austausch mit den Schülerinnen und Schülern auf Augenhöhe“, erklärt Christina Herz. „Im ersten Schritt sollen sie gemeinsam erkennen, was Stress ist und wodurch er ausgelöst wird. Anschließend gilt es herauszufinden, wo individuelle Ressourcen der Schülerinnen und Schüler liegen, um besser mit Stress umzugehen.“ Das Thema ziehe sich durch zwei bis drei Doppelstunden. „Zusatzzeit ist das aber nicht. Die Module lassen sich in den Unterricht integrieren, auch fächerübergreifend.“ In Biologie könnte die Frage beispielsweise lauten, welche Hormone Stress auslösen. In Deutsch lassen sich Definitionen des Stressbegriffs finden. Im Sportunterricht lässt sich Stress etwa mit einer entspannenden Traumreise oder intensivem Auspowern abbauen. „Die Erfahrung zeigt, dass MindMatters den Klassenverbund unheimlich stärkt“, ist die Psychologielehrerin überzeugt. „Das erleichtert und fördert das Arbeiten anschließend enorm.“
2018 führte die JWS MindMatters im beruflichen Gymnasium als Pilotprojekt ein. Treibende Kraft waren die Lehrerinnen Ursula Etzkorn, die parallel der Beratungsgruppe „Gewaltprävention und Gesundheitsförderung“ beim Pädagogischen Landesinstitut Rheinland-Pfalz angehört, und Alexandra Paus, die das modulare System in bundesweiten Weiterbildungen kennengelernt hat. Die ersten Umsetzungen im Unterricht brachten eine positive Resonanz auf allen Seiten. Im Folgejahr wurde der Begriff „feelgood@school“ geboren, der alle Aktivitäten zur Gesundheitsförderung an der JWS zusammenfasst und das Ziel hat, das Lehren und Lernen zu verbessern und damit die Bildungsqualität zu erhöhen.
„Bei einer Schule unserer Größenordnung ist es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler sich mit der Schule verbunden fühlen“, sagt Schulleiter Carsten Müller. „Dafür schaffen wir mit feelgood@school eine gute Basis.“ Er unterstützt das Engagement vom ersten Tag an.
Die psychischen Belastungen der rund 3.000 Schülerinnen und Schüler, die an der JWS von rund 200 Lehrkräften unterrichtet werden, sind ganz unterschiedlich: „Das kann etwa ein langer Schulweg sein, Ignoranz durch andere, Krankheit, Überlastung im Unterricht oder im Privaten“, sagt Deutschlehrer Patrick Schilling, der an der JWS gleichzeitig Teamsprecher für das Qualitätsmanagement an berufsbildenden Schulen (QmbS) ist. „Nur was man aussprechen kann, kann man auch bearbeiten. Deswegen wollen wir im Unterricht Problemen einen Raum schaffen.“ Bislang sind rund 40 Lehrerinnen und Lehrer im Team feelgood@school, um unter anderem mit den auf MindMatters basierenden Bausteinen die psychische Gesundheit ihrer Lerngruppen zu fördern und die Lernenden von innen zu stärken. Damit baldmöglichst das gesamte Kollegium diese Möglichkeiten nutzt, möchte das feelgood@school-Team die Ergebnisse des Programms messbar machen und über eine Abstimmung in der Gesamtkonferenz als Qualitätsziel definieren. „Eine fächerübergreifende Umsetzung mit möglichst vielen Kollegen ist entscheidend dafür, dass die Resilienzförderung im Unterricht ideal gelingt“, erklärt Patrick Schilling.
Das wäre auch ganz im Sinne von Schulleiter Carsten Müller. „Uns ist es wichtig, dass möglichst alle aufeinander achten, hilfsbereit sind und einen Teamgeist spüren und leben“, beschreibt er die Kultur, die er sich an der JWS wünscht. Die MindMatters-Module helfen dabei, diese Philosophie umzusetzen und die vielen Teams immer wieder zusammenzuführen. „Die Schule ist gleichzeitig Lern- und Lebensraum“, erklärt er. „Um sich wohlzufühlen, müssen wir uns austauschen und mehr übereinander erfahren.“
Diese Kommunikation schafft Empathie füreinander. Eine wichtige Basis, nicht nur im Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) auf dem häufig steinigen Weg zu einem Berufsreifezeugnis beziehungsweise Hauptschulabschluss sowie in der Berufsfachschule 1 mit dem Ziel Mittlere Reife. In diesen Bildungsgängen unterrichtet Rasim Ahmedan Mathematik und Sport. „Drogen, Gewalt, finanzielle Probleme, Flucht“, zählt er auf, „im BVJ sind schwierige Familienverhältnisse fast die Regel.“
Mal kommt jemand betrunken zum Sportunterricht, mal gibt es Auseinandersetzungen in der Pause. „Wir wollen ein Zugehörigkeitsgefühl erzeugen, das Vertrauen stärken und neue Lösungswege zum Stressabbau anbieten.“ Die MindMatters-Angebote seien dafür inhaltlich wertvoll, aber sprachlich – nicht nur für die Geflüchteten – teilweise zu fordernd. Deswegen müssen die Lehrkräfte viele Bausteine flexibel an Sprachniveau, Lebenswelt und Bedürfnisse dieser Zielgruppe anpassen. „Auf lange Sicht zahlt es sich aus, wenn wir mithilfe von MindMatters immer wieder motivieren, Mut machen und das Selbstbewusstsein stärken“, ist Rasim Ahmedan überzeugt. „In den Klassen sinkt das Stresslevel definitiv, während die Leistungen steigen.“
Dass davon letztlich alle profitieren, begrüßt auch Schulsozialarbeiterin Katja Kappus. „Die Implementierung von MindMatters in den Unterricht stärkt unsere Präventionsarbeit“, sagt sie. Diese setzt dort an, wo die Jugendlichen an der JWS an Grenzen stoßen und nicht mehr weiterwissen. Wer schon Themen wie Resilienz, Stressbewältigung und Lernstrategien bearbeitet hat, kann in schwierigen Situationen auf die gelernten Hilfsmittel zurückgreifen. „Das half und hilft weiterhin gerade auch jenen, die durch die Pandemie allgemein, Onlineunterricht und soziale Isolierung zusätzlich gestresst oder überfordert sind.“
Im Kollegium der JWS brachte der verstärkte Austausch schon einige unverhoffte Talente zutage: zum Beispiel, dass eine Lehrerin ein gutes Gespür für Farbe und Stil in Räumen hat. So konnte sie für mehrere Schulbereiche ein stimmiges Farb- und Möbelkonzept entwickeln. Oder dass ein Kollege zugleich ausgebildeter Erlebnispädagoge ist, der nun interne Fortbildungen für die regelmäßigen feelgood@school-Kennenlerntage anbietet. Einer davon findet zu Beginn des Ausbildungsjahres erstmals für die angehenden Friseurinnen und Friseure statt. Sie verbringen einen gemeinsamen Tag auf Niederwerth, einer Rheininsel bei Koblenz. „Die einzelnen Persönlichkeiten sollen hier als Klasse zusammenwachsen“, erklärt Lehrerin Christin Sonne, die den Tagesablauf mithilfe des MindMatters-Moduls „Freunde finden, behalten und dazugehören“ plante. „Dabei helfen Übungen, bei denen alle viel kommunizieren und kooperieren müssen. Das ist in diesem Ausbildungszweig sehr wichtig, außerdem entwickelt sich so eine gute Lerngemeinschaft.“
Um das Eis zu brechen, tanzen bei der Übung „Finde vier Gemeinsamkeiten“ alle zusammen Salsa – bis die Musik stoppt. Dann tun sich die Auszubildenden jeweils zu zweit zusammen und suchen Interessen, Talente oder Träume, die sie teilen. Was sie finden, kann man auf den Zetteln nachlesen, die später an der Grillhütte hängen: Solmaz und Hannah sind Familienmenschen und backen gern. Letizia und Hannah lieben Weihnachten und lassen sich dasselbe Piercing stechen. Selina und Anil stehen auf Netflix und die Farbe Schwarz. „Um die Aufgabe zu lösen, mussten wir uns aufeinander einlassen und nachfragen“, sagt die 18-jährige Sabrina. Dass sie schon ziemlich gut an einem Strang ziehen, beweisen die Auszubildenden bei der Geschicklichkeitsübung „Tower of Power“. Im Kreis stehend halten sie jeweils eines von vielen Schnurenden in der Hand, sodass sich zwischen ihnen ein Spinnennetz bildet. In dessen Mitte baumelt ein Holzbaustein, den sie gemeinsam auf einen Turm manövrieren müssen. Der wächst Stück für Stück, bis er dann doch unter großem Gejohle einstürzt. Nicht schlimm, findet Friseur-Azubi Armand: „Indem wir hier miteinander Zeit verbringen und viel lachen, wachsen wir als Klasse zusammen. Das macht im Schulleben vieles leichter.“
Weitere Infos: www.mindmatters-schule.de
Interessiert? Wenn Sie das Programm MindMatters ausprobieren oder mehr darüber erfahren möchten, wenden Sie sich direkt an Ihren Unfallversicherungsträger!
Autor: Stefan Layh, Redakteur (Universum Verlag)