Manchmal ist da nur eine vage Vermutung, in anderen Fällen sind die Indizien klar: Eine Kindeswohlgefährdung fällt in der Schule oft besonders früh auf. Darüber, was bei einem Verdacht zu tun ist, herrscht jedoch vielfach Verunsicherung.
An der Johann-Hinrich-Wichern-Schule in Frankfurt am Main bilden Lehrerin Julia Adler und Schulsozialarbeiter Philipp Kreuter-Castein als Kinderschutztandem eine Anlaufstelle für alarmierte Kolleginnen und Kollegen. Die Kinderschutztandems wurden seit 2011 im Rahmen des „Frankfurter Modells zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in der Schule“ eingerichtet und bestehen aus je einer Lehrkraft und einer Fachkraft der Jugendhilfe, die vom Stadtschulamt besonders fortgebildet werden. Das Modell gibt klare Strukturen vor, die allen Beteiligten im Verdachtsfall helfen.
Dienstags in der sechsten Stunde oder nach Termin können Beschäftigte der Förderschule, denen etwas an den Schülerinnen und Schülern aufgefallen ist, das Tandem aufsuchen. „Von einer mangelhaften Frühstücksversorgung und unangemessener Kleidung über einen unregelmäßigen Schulbesuch bis zu körperlicher Versehrtheit ist vieles dabei“, erzählt Julia Adler.
Das Tandem schätzt gemeinsam mit der Kollegin oder dem Kollegen ein, wie gewichtig die Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung sind. Dafür haben sie einen gesetzlichen Auftrag gemäß Hessischem Schulgesetz und Sozialgesetzbuch. Bei der Einschätzung hilft ihnen eine Indikatorenliste mit Risiko- und Schutzfaktoren aus dem „Frankfurter Modell“. Auch die Vorgesetzten des Tandems, also Schulleitung und Referatsleitung des Jugendhilfeträgers, werden informiert. Wenn nötig, holt das Team weitere Informationen ein, lässt sich von einer im Kinderschutz erfahrenen Fachkraft der Jugendhilfe beraten oder zieht eine Fachberatungsstelle hinzu. Die Fallbesprechung erfolgt anonymisiert. „Das ist besonders bei einem sensiblen Thema wie sexualisierter Gewalt oder Missbrauch wichtig“, sagt Philipp Kreuter-Castein. Ohne Einwilligung der Beteiligten werden keine personenbezogenen Daten oder vertraulichen Informationen weitergegeben.
Außerdem wird festgelegt, wer die Verantwortung für den Fall trägt und den Überblick über alle weiteren Prozesse behält. „Bei einer akuten Gefährdung, wie Suizidgefahr bei ungesicherter medizinischer Versorgung, fehlender Einsicht und mangelnder Kooperation der Eltern oder häuslicher Gewalt, erfolgt sofort eine Meldung an das Jugendamt“, sagt Julia Adler. Viel häufiger seien jedoch weniger klare Situationen. Dann steht in der Regel ein Beratungsgespräch mit dem Kind und den Eltern an, sofern dies nicht den Schutz des Kindes in Frage stellt. „Wir motivieren die Personensorgeberechtigten, Unterstützung in Anspruch zu nehmen, zum Beispiel Hilfen zur Erziehung des Jugendamts“, erzählt der Schulsozialarbeiter. Gemeinsam mit Eltern, Schüler oder Schülerin wird in einem Schutz- oder Förderplan festgelegt, wer bis wann welche Schritte umsetzt. Die fallzuständige Fachkraft behält im Blick, ob der Plan eingehalten wird und sich die Kindeswohlgefährdung tatsächlich verringert.
Im Rahmen von Gesamt- und Stufenkonferenzen weisen Julia Adler und Philipp Kreuter-Castein regelmäßig auf ihr Beratungsangebot hin. „Inzwischen kommen die Kolleginnen und Kollegen schon früh bei einem Verdacht auf uns zu.“ An der Schule habe sich eine „Kultur des Hinschauens“ entwickelt. Die Jugendhilfe pflegt Kontakte zu Institutionen wie Tagesgruppen, Familienzentren, Beratungsstellen oder Polizei, mit denen das Tandem zusammenarbeitet.
„Gerade Berufseinsteiger sind dankbar für die Beratung, denn Kinderschutz ist meist nicht Teil des Lehramtstudiums“, sagt Kreuter-Castein. Auch Lehrerin Julia Adler ist überzeugt: „Von dem Modell können alle nur profitieren.“
Autorin: Nele Langosch ist Journalistin und Diplom-Psychologin.