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Im Fitnessfieber

  • Sport als Mittel zur Gewichtsreduktion
  • Einzelberatung bei Verdacht auf eine Essstörung
  • Frühe Therapie erhöht die Heilungschancen

 

Schlanke Körper, gestählte Muskeln, glatte Haut: Die sozialen Medien sind voller Fotos von schönen und durchtrainierten Menschen. Wie gefährlich vermeintlich perfekte Vorbilder aus dem Netz sein können, erleben die Beschäftigten des Beratungszentrums für Ess-Störungen „Dick & Dünn e. V.“ in Berlin. Zu ihnen kommen Menschen, bei denen ein Verdacht auf ein ungesundes Essverhalten besteht. Die jüngsten Betroffenen sind erst zehn Jahre alt und werden von ihren Eltern begleitet.

 

„Besonders unter Jugendlichen herrscht ein großer Druck, den gängigen Schönheitsidealen zu entsprechen“, bestätigt Beatrice Kaya, Mitarbeiterin des Beratungszentrums. Angefeuert wird diese Entwicklung durch Online-Wettbewerbe, an denen sich Fitness-Fans aus aller Welt beteiligen. Sie versuchen, durch Sport oder Gewichtsreduktion bestimmte Körpermerkmale zu erreichen.

 

Bei der „Earphone Waist Challenge“ zum Beispiel wickeln sie sich Kopfhörerkabel um die Taille, um zu zeigen, wie dünn sie sind. Und bei der „Ab Crack Challenge“ trainieren Mädchen und Frauen für einen senkrechten Spalt auf dem Bauch vom Brustbein bis zum Nabel. Die Fotos davon posten sie im Netz. Fachleute warnen, dass solche Körpermerkmale zum größten Teil individuelle Veranlagung seien und nicht auf dem „richtigen“ Training beruhten.

 

Sport als Zwang

 

„Es ist zunächst ein gutes Vorhaben, wenn Jugendliche Sport machen und gesund essen wollen“, sagt Beatrice Kaya. Doch der Wunsch nach einem perfekten Aussehen kann ernsthaft krank machen. Gefährdet sind vor allem unsichere und perfektionistische Jugendliche mit einem hohen Anspruch an sich selbst. „Viele denken, dass sie sich in einem fitten und schlanken Körper innerlich stärker fühlen oder eher gemocht werden. Das ist ein Trugschluss“, sagt Beatrice Kaya. „Manche trainieren nicht mehr aus Spaß, sondern weil ihnen das eine innere Stimme befiehlt.“

 

Streben Jugendliche zwanghaft nach einem immer muskulöseren Körper, liegt eine Muskeldysmorphie (Muskelsucht) vor. Sie ist jedoch selten und spielt im Beratungsalltag eine untergeordnete Rolle. Viel häufiger ist exzessive Bewegung mit einer Essstörung wie Anorexie (Magersucht) oder Bulimie (Ess-Brech-Sucht) verbunden. Dann ist der Sport ein Mittel, um noch mehr Gewicht zu verlieren.

 

Handelt es sich bei den Betroffenen um Leistungssportlerinnen und Leistungssportler, wird auch von Sportanorexie oder -bulimie gesprochen. Die Wortneuschöpfung Instarexie beschreibt den Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und der Entstehung einer Essstörung. Dies ist jedoch keine offizielle Diagnose

Hinschauen statt weggucken

 

Das Beratungszentrum hilft mit Einzelberatungen für Jugendliche und/oder Eltern und Angehörige, die zwischen 10 und 35 Euro für 60 Minuten kosten. Menschen zwischen zehn und 18 Jahren können auch ein kostenfreies Einzelgespräch in der Jugendsprechstunde in Anspruch nehmen, anonym und ohne Anmeldung – aktuell aufgrund der Pandemie allerdings nur mit Terminvereinbarung. Das senkt die Hemmschwelle, das Angebot zu nutzen.

 

Zunächst versuchen die Mitarbeiterinnen zu verstehen, wie sich das ungesunde Verhalten der Jugendlichen entwickelt hat und wie stark es ausgeprägt ist. „Eine Essstörung hat Suchtcharakter. Am Anfang habe ich noch die Kontrolle über mein Verhalten. Dann aber nimmt die Störung immer mehr Platz ein, im Alltag und in den Gedanken“, erklärt Beatrice Kaya. „Die Betroffenen merken nicht, wann die Situation kippt.“

 

Rechtzeitig behandeln

 

Das Beratungszentrum darf keine Diagnose stellen. Wenn der Verdacht auf eine Essstörung besteht, benötigen die Jugendlichen ärztliche und psychotherapeutische Unterstützung, um ein gesundes Essverhalten zu erlernen. Die Therapie kann ambulant oder stationär stattfinden. Das Beratungszentrum vermittelt Adressen von Fachleuten und Kliniken und hilft bei der Suche nach weiteren Behandlungsoptionen. Je eher die Therapie beginnt, desto besser sind die Heilungschancen. Eine große Rolle spielen dabei Lehrkräfte und weitere pädagogische Fachkräfte. Beatrice Kaya wünscht sich, dass diese aufmerksam werden, wenn Schülerinnen und Schüler sich verändern oder etwa wiederholt Proteinshakes trinken. „Lehrkräfte sind zudem Vorbilder im Umgang mit dem eigenen Körper und einem stabilen Selbstwertgefühl“, sagt sie. „Sie sollten sich bewusst sein, wie sie sich selbst wahrnehmen, wie sie über ihr Aussehen sprechen und was sie vorleben. Das ist ein wichtiger Teil der Prävention.“

 

Mehr Informationen

 

  • Das Beratungszentrum bei Ess-Störungen „Dick & Dünn e. V.“ in Berlin bietet unter anderem eine Jugendsprechstunde, Einzelberatung und Präventionsworkshops in Schulen an. www.dick-und-duenn-berlin.de
  • Bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) finden Interessierte und Betroffene hilfreiche Informationen und Tipps rund um Essstörungen und Beratungsangebote. www.bzga-essstoerungen.de

 

 

Autorin: Nele Langosch ist Journalistin und Diplom-Psychologin.

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