Im Interview: Annette Michler-Hanneken. Sie leitet seit Oktober 2020 den DGUV-Fachbereich Bildungseinrichtungen.
Frau Michler-Hanneken, die Schülerunfallversicherung feiert 50 Jahre Jubiläum. Warum wurde sie in Westdeutschland eingeführt?
Das geht zurück auf das Jahr 1960, als eine Schülerin im Sportunterricht verunfallte. Nachdem der Heilungsprozess mit einer Versteifung des Schultergelenks endete, reichte die Familie der Schülerin Klage ein. Begründung: Die Sportlehrerin hätte berücksichtigen müssen, dass die Schülerin aufgrund ihrer Konstitution nicht geeignet für die Sportübung war.
Zwar wurde die Klage 1967 abgewiesen. Doch der Richter formulierte, dass es dem Rechtsstaat gut anstünde, wenn Schülerinnen und Schüler bei Unfällen eine Entschädigung erhielten. Dies zu regeln sei Aufgabe des Gesetzgebers. Es dauerte dann noch vier Jahre, bis 1971 die gesetzliche Schülerunfallversicherung eingeführt wurde.
Vor welche Herausforderung stellte das die Unfallversicherungsträger?
Es gab plötzlich mehr als 12 Millionen neue Versicherte. Dies erforderte Anpassungen in allen Geschäftsbereichen der Unfallversicherungsträger. Die größte Herausforderung bestand in der Erkenntnis, dass die bewährten Präventionsmaßnahmen nicht so ohne Weiteres auf Kinder und Jugendliche übertragbar waren.
Welche inhaltlichen Schwerpunkte hatte die Präventionsarbeit damals?
Sie war geprägt von klassischen Maßnahmen der Unfallverhütung und Sicherheitserziehung. Diese bezogen sich auf die sichere Gestaltung der Gebäude und des Umfeldes, das Aufstellen von Regeln, auf Maßnahmen der Ersten Hilfe und auf Unfallverhütung auf den Wegen. Man hat auf den einzelnen Unfall geschaut und überlegt: Was muss geändert werden, damit das nicht mehr passiert? Dann hat man festgestellt, dass technische Maßnahmen allein nicht ausreichen, weil an den Schulen 80 bis 90 Prozent der Unfälle verhaltensbedingt verursacht werden.
Was bedeutet heutzutage Prävention an Schulen?
Mittlerweile nehmen wir das ganze System Schule in den Blick mit dem Ziel, Sicherheit und Gesundheit in das tägliche Handeln zu integrieren. Dabei geht es nicht nur um die Frage: Was macht in Schulen krank? Sondern auch: Was erhält gesund, wie können Ressourcen gefördert werden? Hierbei werden alle schulischen Akteure einbezogen. Für diesen ganzheitlichen Ansatz hat die gesetzliche Unfallversicherung ihre fachliche Expertise stark erweitert. Neben den Ingenieuren mit unterschiedlichen Fachrichtungen bringen Sportwissenschaftler, Sozialpädagogen, Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler und Psychologen ihre Kompetenzen für die Präventionsarbeit ein.
Wie werden die Schulen unterstützt, könnten Sie Beispiele nennen?
Grundlegend ist die Beratung, die wir z. B. in den Schulen oder als Qualifizierungsmaßnahme anbieten. Daneben gibt es Präventionsmedien wie den pluspunkt, das Schulportal DGUV Lernen und Gesundheit, die DGUV Informationen oder die Webauftritte der Unfallversicherungsträger. Ein ganz wichtiges Medium ist auch das Online-Portal www.sichere-schule.de, das sich an Schulen und Planer richtet.
Außerdem engagieren wir uns in Netzwerken und mit Partnern für schulische Projekte. Hier ist die Initiative „Sicherheit und Gesundheit im und durch den Schulsport“ (SuGiS) zu nennen. Gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz soll das schulsportliche Unfallgeschehen gesenkt werden.
Die Corona-Pandemie hat die Sicherheit und Gesundheit in Schulen wie nie zuvor in den öffentlichen Fokus gerückt. Wie hat die DGUV darauf reagiert?
Am Anfang stand der Aufbau eines Netzwerkes, um sowohl mit den Unfallversicherungsträgern als auch mit externen Partnern den Informationsfluss zu gewährleisten und die Lösungsfindung zu übergeordneten Fragen zu koordinieren. Wir haben den SARS-CoV-2 Schutzstandard Schule entwickelt, Empfehlungen zur Gefährdungsbeurteilung und Fragen und Antworten z. B. zu den Themen Maske, Lüftung und Schnelltests erarbeitet. Zugleich gab und gibt es immer noch viele Anfragen von besorgten Schulleitungen und Eltern. Gemeinsam versuchen wir, die Sorgen so gut es geht zu entkräften.
Welche Konsequenzen hat Corona für die Prävention?
Corona bietet die Chance, Bilanz zu ziehen und auch aus Fehlern zu lernen. Ich denke hier besonders an die Lüftungssituation in Schulen. Insgesamt ist mein Eindruck: Schulen, die schon vor Corona gut aufgestellt waren, kamen besser durch die Pandemie. Das bestärkt mich darin, das System Schule im Blick zu haben und Teamarbeit, Evaluation und Schulqualität zu fördern. So befähigen wir Schulen, Herausforderungen besser zu bewältigen – ob Migration, Inklusion oder Corona.
Sie haben im Herbst 2020 die Leitung des DGUV-Fachbereichs Bildungseinrichtungen übernommen. Welche Schwerpunkte sehen Sie für die Prävention der Zukunft?
Ziel bleibt, sichere, gute und gesunde Schulen zu schaffen. Dabei stehen im Fokus die Themen Schulbau, Gefährdungsbeurteilung, psychische Gesundheit, außerdem die Unfallschwerpunkte Schulsport, Pausen und Wegeunfälle.
Außerdem beschäftigen wir uns verstärkt mit Digitalisierung. Sprich: Wie können wir Schulen unterstützen und uns als Unfallversicherung auch selbst digitaler aufstellen? Und die Prävention wird sich intensiv mit weiteren gesellschaftlichen Großthemen wie Klimawandel, demografischem Wandel und neuen Mobilitätsformen auseinandersetzen.
Das Interview führte René de Ridder, Redakteur (Universum Verlag)