Foto: Dominik Buschardt

Digitale Pioniere in Drensteinfurt

  • Erste Tablet-Jahrgänge in der Lambertus Grundschule Walstedde
  • Offenes Lernkonzept mit Wochenplan und Digital-Chat
  • Kinder lernen schnell, mit den Geräten zu arbeiten

 

Ein Lehrer notiert etwas mit Kreide an der Tafel, die Kinder schreiben in papierene Schulhefte. So ungefähr stellt man sich eine übliche Szene in der Grundschule vor. Doch in den Lerngruppen von Niklas Dietrich und bei allen anderen Kolleginnen und Kollegen der Lambertus Grundschule Walstedde läuft es anders.

 

Der Lehrer schlendert umher, spricht mit Zweitklässlern, die leise murmelnd auf ihr Tablet fokussiert sind. Die Kinder arbeiten von der ersten Klasse an jeden Tag ständig begleitet durch die großen Tablets, teils im Distanzunterricht. Eingelegt sind die Geräte in hölzerne, ergonomische Schreibrahmen, eigens angefertigt vom Schreiner. Sieht so die Schule der Zukunft aus?

 

Jenseits von Frontalunterricht und 45-Minuten-Takt setzt die Schule in Drensteinfurt bei Münster ein offenes Lernkonzept um. Dazu zählen eine digitale Schultasche, die Verwendung der digitalen Handschrift ab Klasse eins und ein interaktiver Wochenplan mit Videotutorials und Lern-Apps. Einzelarbeitsphasen wechseln sich mit Präsentationen ab, Hausaufgaben sind abgeschafft: „Die bringen keinen Mehrwert“, sagt Dietrich.

 

Der Grundschullehrer beobachtete, wie schnell die Kinder digitale Arbeitstechniken lernten, etwa Screenshots zu benutzen oder Begriffe und Bilder im Internet zu recherchieren. Oder wie sie per Digitalstift mit selbst entwickelter Schreibkappe auf der haptisch aufgerauten Schreibfolie der Tablets Buchstaben schrieben – und dabei eine gute Schreibmotorik entwickelten.

Zettelwirtschaft gibt's nicht mehr

 

Ab dem ersten Schultag lernten die Schülerinnen und Schüler im Verhältnis 50:50 parallel analog und digital zu schreiben. Bei der Einführung der Methode gab es zu Beginn Vorbehalte bei Eltern und auch im Kollegium. Mittlerweile ist das Projekt „Digitale Handschrift“ aufgrund der guten Erfahrungen voll akzeptiert (siehe Infokasten).

 

Der Tablet-Jahrgang läuft seit anderthalb Jahren. Die Zweitklässler sind mit den digitalen Tools so vertraut, dass sie im Rahmen von Aufgabenstellungen eigene kleine E-Books, Erklärvideos und Audioaufnahmen produzieren, mit denen sie eigene Texte vorlesen oder Gedanken und Lernwege erklären. Und sie geben dem Lehrer Techniktipps. „Herr Dietrich, schauen Sie mal, wie man auch den Bildschirm teilen kann“, hieß es neulich.

 

Oder beispielsweise Ahmed. Der Junge, der mit seiner Familie aus dem Irak flüchtete, arbeitet konzentriert an seinem Tablet. Bei Verständnisproblemen googelt er Worte, Bilder und Fotos, um Aufgaben und Texte besser zu verstehen. „Er hat vom digitalen Konzept ziemlich profitiert“, sagt der Pädagoge.

 

Vergessene Schulhefte, Bücher oder Zettelwirtschaft – diese Zeiten sind vorbei. Alle Arbeitsergebnisse und Materialien werden in der digitalen Schultasche aufbewahrt. Sie sind für Eltern, Lehrkräfte und Kinder laufend einsehbar und in Echtzeit synchronisiert. Die Schule hat mit Einwilligung von Schulbuchverlagen Lehrwerke digitalisiert und legt PDFs in den digitalen Ordner. So ist alles jederzeit an Ort und Stelle verfügbar.

 

Benötigt Dietrich mehr Zeit für einzelne Kinder, steht für den Rest der Lerngruppe die Zeit nicht still: Der digitale Videokonferenzraum ist ständig verfügbar. Eine Lehramtsstudentin ist online, die man bei Fragen vom Tablet aus direkt ansprechen kann und die bei Fragen weiterhilft.

 

Weitere Verstärkung bietet Alexandra Rohling. Die Schulbegleiterin berät Schülerinnen und Schüler, bei Bedarf steht ein benachbarter Kleingruppenraum als Rückzugsort bereit. Weil an der Grundschule viele Kinder mit Unterstützungsbedarf unterrichtet werden, gibt es ein Budget der Jugendämter. Daraus werden zusätzliche Schulbegleiter und Sonderpädagogen finanziert, wovon alle Jahrgänge profitieren.

 

Das Konzept der Tablet-Jahrgänge – es existieren drei, der vierte folgt – entstand in jahrelanger, engagierter Entwicklungsarbeit. „Es war ein Prozess in kleinen Schritten“, sagt Schulleiterin Birgitta von Rosenstiel. „Experimentieren, ausprobieren, abwägen“, erinnert sich Niklas Dietrich.

 

Spätestens als Corona kam, waren die Vorteile für jeden sichtbar: „Wir sind problemlos in den Distanzunterricht gegangen“, erzählt die Schulleiterin. Und berichtet von „superglücklichen“ Eltern, weil die Schule so gut aufgestellt war. Positiv außerdem: „Wir sind bezogen auf die Unterrichtsinhalte absolut im Zeitplan.“

 

In Drensteinfurt wird der digitale Weg konsequent weiter beschritten. Niklas Dietrich, zugleich auch Medienkoordinator der Schule, bietet wöchentliche, 30-minütige Mikrofortbildungen. Auf diese Weise werden immer mehr Lehrkräfte des schulischen Medienbildungsteams zu digitalen Fachleuten und multiplizieren ihr Praxiswissen in die Jahrgangsteams.

Kompetenzen Schritt für Schritt selbst angeeignet

 

In seiner eigenen Lehramtsausbildung, erinnert sich der 37-Jährige, lernte er vor zwölf Jahren nichts über digitalen Unterricht. Irgendwann spürte er „Veränderungsdruck“. Im Selbststudium eignete er sich Kompetenzen an, etwa auf der Videoplattform YouTube. Sein Tipp: „Sich dem Thema öffnen und Schritt für Schritt lernen, damit umzugehen, dann wird es auch nicht zu einer Riesenbelastung.“

 

Die Lambertus Grundschule bot dafür einen produktiven Rahmen: Die Schulleitung wollte das Thema dringend voranbringen. „Die Entwicklung wäre nicht möglich gewesen, wenn unsere Schulleiterin nicht voll und ganz hinter dem Projekt Digitalunterricht stehen würde und dafür Tür und Tor geöffnet hätte“, betont der Grundschulpädagoge.

 

Mit dem Kauf von Tablets und Access-Points für WLAN auf dem Schulgelände sind vom Schulträger wichtige technische Voraussetzungen geschaffen worden. Doch über die reine Hardware hinaus geht es um einen grundlegenden Kulturwandel. „Viele verstehen digitalen Unterricht als Schmankerl, bei uns soll es das zentrale Grundprinzip des Lernens werden“, erklärt die Schulleiterin. Sie sagt: „Schule soll sich dem stellen, was die Gesellschaft zunehmend prägt und diese rasant verändert.“

 

Niklas Dietrich geht jetzt einen weiteren Schritt. Seine Vision für das Lernen und das Bildungssystem der Zukunft lautet: „Eine KI-basierte, digitale Lernumgebung, die erstmals für jedes Kind echte individuelle Lernwege eröffnet, autonomes Lernen ermöglicht, eine Echtzeit-Verlaufsdiagnostik bereitstellt. Damit steht wieder mehr Zeit für das Allerwichtigste zur Verfügung: den persönlichen sozialen Austausch zwischen Lehrkräften und Kindern mit viel mehr Raum für Projekt- arbeiten und Persönlichkeitsentwicklung.“

 

Derzeit experimentiert der Lehrer mit selbst produzierten Video-Tutorials, die von den Kindern im Rahmen ihres Wochenplans als Anleitungen in der „digitalen Schultasche“ jederzeit und beliebig oft abgerufen werden können.

 

Seine ersten Erfahrungen sind gut: „Wir führen die Kinder beim Lernen weiter in eine große Selbstständigkeit.“

„Ein Drittel weniger Verwaltungsaufwand“

 

Frau von Rosenstiel, warum haben Sie damals die Digitalisierung der Grundschule vorangetrieben?

 

Schon vor 15 Jahren hatten wir uns die innere Differenzierung besonders auf die Fahne geschrieben. Damals wie heute geht es um individualisiertes Lernen. Wir wollten Kindern mit Förder- und Unterstützungsbedarf ein gutes Angebot machen, und in digitalen Formaten fanden wir ein gutes Instrumentarium mit vielen Möglichkeiten der Differenzierung. Das konnten wir unserem Schulträger auch gut vermitteln, und so bekamen wir als Pilotschule diese Ausstattung. Allerdings war es noch vor sechs Jahren echte Überzeugungsarbeit: Für viele passte Grundschule und Digitalisierung überhaupt nicht zusammen.

 

Wie wurde die Schulverwaltung modernisiert?

 

Angefangen haben wir vor zehn Jahren damit, die Klassenbücher digital zu führen. Heutzutage werden zum Beispiel Abwesenheiten zentral in einem Messenger dokumentiert. Dort kann jeder sofort sehen, wer heute fehlt. Aktennotizen und Protokolle werden mit dem digitalen Stift notiert und in der Schul-Cloud archiviert. Alle Schulakten sind digitalisiert: Jede Lehrkraft kann von überall aus Aktennotizen, Zeugnisse und Protokolle einsehen. Die Terminvereinbarung ist schlanker und übersichtlicher geworden. Ich schätze: Durch die Digitalisierung haben wir ein Drittel weniger Aufwand für Verwaltungsarbeit.

 

Haben Sie Tipps für andere Schulen, die mehr Digitalisierung umsetzen möchten?

 

Im Kollegium Akzeptanz schaffen, kleinschrittig vorgehen, zum Beispiel mit Mikrofortbildungen. Sie brauchen immer einige Akteure, die das Thema aktiv voranbringen und die sich auskennen. Ein Muss ist eine eigene Supportstruktur, damit keine Frusterlebnisse aufkommen. Wichtig ist die Frage: Was wollen wir mit den digitalen Medien im Unterricht machen? Ein gutes Medienkonzept entsteht nicht von heute auf morgen. Ebenso die lokale Vernetzung mit anderen Schulen vor Ort ist empfehlenswert. Allerdings kann sich dabei herausstellen, dass es bei den Schulen große Unterschiede in den konzeptuellen Ansätzen gibt – und damit auch in den Anforderungen an technische Ausstattungen.

 

Schulleiterin Birgitta von Rosenstiel steuerte die Grundschule Walstedde vor 15 Jahren auf den digitalen Weg.

 

 

 

Treibende Kraft: Niklas Dietrich ist Grundschullehrer und Medienkoordinator an der Lambertus Grundschule Walstedde. Er entwickelte das Konzept für Tablet-Klasse und digitale Handschrift.

 

Das Projekt Digitale Handschrift

  • Niklas Dietrich entwickelte in einer fünfjährigen Test- und Evaluationsphase ein ausgefeiltes Schreibsetting für das Schreiben auf Tablets.
  • Am 3-D-Drucker entstand eine Schreibspitze für den digitalen Schreibstift. Zusammen mit einer Schreibfolie für das Display wird ein sehr gutes haptisches Feedback möglich. Für eine optimale Handballenablage wurden passgenaue Schreibrahmen entworfen und produziert.
  • Die Kinder lernten ab dem ersten Schultag im Verhältnis 50 : 50 parallel analog und digital zu schreiben. Später durften sie zunehmend selbst das Schreibmedium wählen.
  • Nach fast zwei Jahren arbeiten viele Kinder überwiegend mit digitaler Handschrift, weil sie vor allem die digitalen Tools schätzen.
  • Pandemiebedingt arbeiteten die allermeisten Kinder ab Mitte Klasse eins für viele Monate fast ausschließlich mit digitaler Handschrift.
  • Zu Projektbeginn konnten Eltern das neue Schreibsetting selbst ausprobieren. Erste Skepsis wandelte sich laut Schulleitung schnell in breite Zustimmung.
  • Nach einem Jahr wurde die Elternmeinung zum Schreiblernprozess und zur Schreibmotorikentwicklung evaluiert. Die Kinder zeigten analog und digital eine altersgerechte, gut entwickelte Schreibmotorik. Das Elternfeedback dazu ist bis heute sehr positiv.
  • Zur wissenschaftlichen Begleitung des Pilotprojekts laufen derzeit Gespräche mit Institutionen, Wissenschaftlern und Schulbuchverlagen. Das Interesse ist laut Schulleitung groß.
  • Nach einem Jahr wurde die Elternmeinung zum Schreiblernprozess und zur Schreibmotorikentwicklung evaluiert. Die Kinder zeigten analog und digital eine altersgerechte, gut entwickelte Schreibmotorik. Das Elternfeedback dazu ist bis heute sehr positiv.

 

Weitere Infos

 

 

Autor: René de Ridder, Redakteur (Universum Verlag)

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