Ist es nötig, Lehrkräfte im Umgang mit gewaltbereiten Schülerinnen und Schülern zu schulen?
Lars Mechler: Gewalt wird in der Schule oft nicht thematisiert – bis es plötzlich doch zu Konfliktsituationen kommt. Dann fühlen sich viele Lehrkräfte überfordert. Wir erweitern in unseren Fortbildungen das Verhaltensrepertoire der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, damit sie bedrohliche Gewaltsituationen erfolgreich deeskalieren und sich schützen können. In den Schulen kommen verschiedene Formen von Aggression und Gewalt vor. Das reicht von der fiesen Bemerkung über Ausgrenzung und Mobbing bis hin zu körperlicher Gewalt.
Geraten Schülerinnen und Schüler, aus welchen Gründen auch immer, in emotionale Hochanspannung, wissen Lehrkräfte manchmal nicht, wie sie gut reagieren können. Häufig drohen sie dann mit Bestrafung und spürbaren Folgen. Dieses Verhalten ist aber nicht in jedem Fall zielführend, manchmal kann es eine eskalierende Situation noch verschärfen.
Welche Strategien zur Deeskalation sind wirkungsvoller?
Lars Mechler: Deeskalation heißt, die Situation richtig einzuschätzen und dann zu stoppen. Den Prozess verlangsamen und weiteres aggressives Verhalten verhindern. Wichtig ist dabei zu erkennen, dass Schülerinnen und Schüler, die sich in einem emotionalen Ausnahmezustand befinden, auch körperlich im Ausnahmezustand sind: Sie handeln nicht rational und sind nicht immer in der Lage, die Folgen ihres Handelns abzuschätzen und adäquat zu reagieren.
Dann ist eher beruhigendes Verhalten ratsam. Besonders wichtig ist es, selbst klar und kontrolliert zu bleiben. Meist ist es nicht hilfreich, hochangespannten Schülerinnen und Schülern mit Konsequenzen zu drohen. Das eskaliert die Situation oft noch zusätzlich. Stattdessen, kann man zum Beispiel das wiederholen, was der Schüler oder die Schülerin sagt. Etwa: „Du findest also, dass du ungerecht behandelt wirst und wir alle keine Ahnung haben, wie es dir geht.“ Damit gewinnt man Zeit und baut einen emotionalen Kontakt auf. Konsequenzen für aggressives Verhalten sind natürlich trotzdem notwendig, aber nicht in dieser Situation!
Und wenn eine Situation schon eskaliert ist?
Lars Mechler: Dann sollte der Schutz der Lehrkraft und der Schülerinnen und Schüler gewährleistet werden. Oft hilft es, zunächst den Raum mit demjenigen zu verlassen. Somit gibt es kein „Publikum“ mehr, das die Konfliktsituation noch zusätzlich verschärft. Natürlich sollte die Klasse nicht langfristig allein gelassen werden. Daher empfiehlt es sich, eine andere Lehrkraft hinzuzuziehen. An manchen Schulen gibt es Notrufsysteme oder einen „Feuerwehrplan“. Er legt fest, wie einzelne Lehrkräfte bei Bedarf akut Unterstützung durch andere Kolleginnen und Kollegen erhalten können. Wichtig ist bei so einem „Feuerwehrplan“, dass ihn in der Schule alle kennen und sich daran halten.
Solche Strategien helfen nicht langfristig gegen aggressives Verhalten im Schulalltag, oder?
Lars Mechler: Deeskalierende Sofortmaßnahmen helfen, Schlimmeres zu verhindern und Zeit zu gewinnen für grundlegende Interventionen. Wenn Menschen sich schnell angegriffen fühlen, gibt es dafür immer Gründe. Und sie können sich nicht verändern, wenn sie sich falsch beurteilt oder gar verurteilt fühlen. Grenzen zu setzen, ist notwendig und richtig – insbesondere dann, wenn es darum geht, auch die übrigen Schülerinnen und Schüler zu schützen.
Doch sollten sich Lehrkräfte auch darüber bewusst sein, dass es Beweggründe für ein aggressives Verhalten gibt. Somit ist zu hinterfragen, vor welchem Bedürfnishintergrund und in welchem Kontext gewaltsames Verhalten stattgefunden hat. Ein solches Verhalten muss aufgearbeitet werden. Dabei ist auch zu ermitteln, ob sich der oder die Betroffene vielleicht selbst attackiert fühlte oder ob die Lehrkraft einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war. Fallen Jugendliche immer wieder durch aggressives Verhalten auf, sollten die entsprechenden Stellen wie die Schulsozialarbeit mit ins Boot geholt werden.
Welche Maßnahmen der Gewaltprävention empfehlen Sie?
Lars Mechler: Erfolgreiche Gewaltprävention fängt bei einer gemeinsamen pädagogischen Haltung des Kollegiums an. Das kann nur gelingen, wenn die Schule offen mit der eigenen Gewalt umgeht. Die Alltagserfahrungen der Kinder und Jugendlichen wirken sich in der Schule aus, das schließt auch Erfahrungen aus einem gewaltbereiten häuslichen Umfeld oder prekären Lebensverhältnissen ein. Oft bietet der Schulalltag jedoch nicht die Möglichkeit, drängende Probleme anzusprechen. Wichtig ist, dass Schulen beginnen, ihre gewaltreduzierenden Ressourcen auszuschöpfen und Gewalt im Unterricht zu behandeln. Keinesfalls sollte die Schule aggressives Verhalten kommentarlos geschehen lassen. Ziel sollte es sein, ein umfassendes und mehrdimensionales Gewaltpräventionskonzept zu erstellen und umzusetzen.
Was sollte ein Präventionskonzept konkret beinhalten?
Lars Mechler: Es sollte Antworten auf Fragen liefern wie: Gibt es an der Schule eine gemeinsame Grundhaltung zum Thema Gewalt? Wie und durch wen werden präventive Angebote durchgeführt? Wie können sie aktiv in diese Präventionsarbeit einbezogen werden? Auch Lehrkräfte sollten regelmäßig zum Umgang mit den verschiedenen Gewaltformen fortgebildet werden. Ebenso wie Schülerinnen und Schüler sollten sie die Option haben, sich professionell beraten zu lassen.
Auch eine proaktive, wertschätzende Elternarbeit und die Vernetzung mit dem Jugendamt oder außerschulischen Beratungsstellen zählen zu einem umfassenden Präventionskonzept.
Lars Mechler ist Leiter des Bereiches Prävention-Training-Beratung des „Vereins“ Wellenbrecher e. V. und bietet regelmäßig Fortbildungen für Lehrkräfte zur Gewaltprävention und Deeskalation an.
Interview: Ricarda Gerber, freie Journalistin und Lehrerin