Foto: Adobe Stock/Irina Schmidt

Aus heiß wird warm

  • Umgang mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben, Rechnen
  • Integrativer Ansatz im Bundesland Hessen als Best-Practice-Beispiel
  • Praxistipps zu Diagnosemethoden, Förderplänen und Nachteilsausgleich

 

Für den Umgang mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen setzt man in hessischen Schulen auf einen integrativen Ansatz. Ein Praxisblick in den Auszug der „Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses“ und die dazugehörige Handreichung.

 

Angenommen, ein Drittklässler liest den Satz laut vor: „Im Juli scheint die Sonne sehr warm.“ Allerdings steht in dem Text, den die Klasse zum wiederholten Mal liest: „Im Juli scheint die Sonne sehr heiß.“ Wie konnte dann aus ‚heiß‘ ein ‚warm‘ werden?

 

Die Antwort kennt Peter Kühne. „Besondere Schwierigkeiten im Lesen sind bei einem Kind nicht leicht auszumachen. Viele betroffene Schülerinnen und Schüler schummeln sich durch die Grundschulzeit, indem sie nicht lesbare Satzteile sinnhaltig ergänzen“, erklärt der Schulpsychologe am Staatlichen Schulamt für den Landkreis Marburg-Biedenkopf. Dabei wird aus einem ‚heiß‘ jedoch schnell ein ‚warm‘.

 

Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen – dazu verfolgt man in Hessen im Vergleich zu einigen anderen Bundesländern ein integratives Konzept. Verankert ist es im sechsten Teil der „Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses“, kurz: VOGSV. Für die Umsetzung in die Praxis gibt es eine zusätzliche Handreichung des Hessischen Kultusministeriums (siehe Infokasten).

 

Bei diesem Ansatz wird bewusst nicht auf den Legasthenie-Begriff zurückgegriffen. Vielmehr signalisiert der Begriff der „Schwierigkeiten“ ein weiteres Feld, in dem der Fokus weg von der individuellen Störungsdiagnose hin zu zahlreichen Umgebungsfaktoren geweitet wird.

 

Das spiegelt sich auch in der Frage nach den Ursachen. So ist in der VOGSV bewusst von Risikofaktoren die Rede. Demzufolge hängt es selbst bei Kindern mit einer genetischen Veranlagung von vielen weiteren Umgebungsfaktoren ab, ob sich eine besondere Schwierigkeit im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen entwickelt.

 

Neben dem familiären Umfeld spielt nicht zuletzt die schulische Umgebung eine Rolle: Gibt es viele Lehrkraftwechsel? Wie ist das Klassenklima, herrscht Leistungsdruck, welche Unterrichtsmaterialien werden eingesetzt? „Die Qualität des Unterrichts hat großen Anteil daran, ob sich bei einem Kind besondere Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen entwickeln“, sagt Schulpsychologe Kühne.

 

Wie können Schülerinnen und Schüler zuverlässig diagnostiziert werden? Die VOGSV empfiehlt qualitative Diagnoseverfahren. Die Handreichung begründet: Qualitative Diagnoseverfahren können Lehrkräfte in ihren Unterricht integrieren und dort individuell mit dem Kind durchführen. Beispielsweise differenziert ein diagnostisches Interview im Matheunterricht, ob ein Kind die mathematischen Grundregeln hinter einem richtigen Rechenergebnis verstanden hat oder ob es sich nur Hilfsstrategien bedient.

 

Standardisierte Testverfahren sind gemäß VOGSV als Diagnosemittel unzureichend. „Diese können Lehrkräfte einsetzen, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen, aber sie bieten keine ausreichenden Hinweise, um individuelle Fördermaßnahmen ableiten zu können“, erklärt der Schulpsychologe.

„Individuelle Bewertungsmaßstäbe besser berücksichtigen“

 

Für die Konzeption solcher Fördermaßnahmen hält die Handreichung zur VOGSV viele Tipps bereit. Wichtig ist der Einbezug von Eltern und Kind. Nur zusammen lässt sich ein Förderplan erstellen, der individuell auf die Schwierigkeiten und Bedürfnisse des Kindes eingeht. „Entscheidend für einen guten Förderplan ist, dass er nur drei oder vier Ziele enthält, diese aber ganz konkret formuliert“, rät Kühne. „Der Förderplan sollte dann mindestens halbjährlich mit allen Beteiligten an den Lernstand angepasst werden.“

 

Ergänzt werden kann der Förderplan durch einen Nachteilsausgleich. Das bedeutet in der Praxis häufig: Notenschutz, also zum Beispiel das Heraushalten der Rechtschreibleistung aus der Gesamtbenotung. Das ist jedoch zu kurz gegriffen, findet Kühne. „In vielen Fällen kann ein Nachteilsausgleich auch schon durch geringere Maßnahmen gewährleistet werden, beispielsweise durch die Möglichkeit einer Nachkorrektur.“ Dabei darf ein Kind Rechtschreibfehler in seiner Klassenarbeit nachträglich korrigieren.

 

Auch verlängerte Arbeitszeiten oder die Verwendung von Überarbeitungshilfen wie Wörterbuch, Nomenlupe oder Merkzettel zu Rechtschreibstrategien können bereits einen angemessenen Nachteilsausgleich schaffen.

 

Aus Sicht des Schulpsychologen ist der Umgang mit den besonderen Schwierigkeiten betroffener Kinder eine Haltungsfrage gegenüber Gleichbehandlung und Gerechtigkeit. Im Einklang mit dem integrativen Ansatz wünscht Kühne sich: „An Schulen sollten individuelle Lernbedingungen und Bewertungsmaßstäbe für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen noch besser berücksichtigt werden.“

 

Neuer Fokus

 

Die „Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses“ nutzt nicht den Begriff Legasthenie, sondern spricht von besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen. Das Wording betont:

 

  • Hier handelt es sich nicht um eine medizinische Diagnose, sondern eine pädagogische.
  • Es ist keine Störung oder gar Behinderung diagnostiziert.
  • Der Fokus rückt weg vom Kind als Ursache und erweitert sich auf zahlreiche Umgebungsfaktoren.

 

Weitere Infos

 

Die Handreichung: „Besondere Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen“ zum Download: https://t1p.de/Handreichung-bSiLRR

 

 

Anna Nöhren, Redakteurin (Universum Verlag)

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