Ein Schulkind schaut etwas unsicher durch eine Fensterscheibe.

Foto: Adobe Stock, asife

„Alles ist gut, was Stress reduziert“

  • Corona: Wie Kinder und Jugendliche die Folgen des Lockdowns verarbeiten
  • Was Lehrkräfte im Schulalltag praktisch tun können
  • BASIC-Ph-Modell bietet individuelle Bewältigungsstrategien für Krisen

Die Regeln während des Lockdowns haben den sozialen Alltag vieler Schülerinnen und Schüler massiv verändert.

 

Wochenlang waren die Schulen geschlossen, auch jetzt findet Unterricht nur unregelmäßig statt. Mit welchen Erlebnissen und Gefühlen kehren die Schülerinnen und Schüler jetzt in die Klassenzimmer zurück?

Alle Kinder und Jugendlichen haben im Alltag einen massiven Einschnitt erlebt. Häufig bedeutet so eine starke Veränderung Stress. Hinzu kommt, dass viele Ressourcen weggebrochen sind. Dazu zählen Freundinnen und Freunde, Oma und Opa. Aber auch strukturgebende Aktivitäten wie Schule, Instrumentenunterricht, Kommunions- und Konfirmandenunterricht, Nachhilfe und Sport. Je nachdem, wie gut die Kinder und Jugendlichen mit ihren Erlebnissen umgehen können, kommen sie nun mit einem erhöhten Stresspegel zurück in die Schulen.

Kinder und Jugendliche haben den Lockdown unterschiedlich erlebt

 

Wovon hängt ab, wie gut Schülerinnen und Schüler den Lockdown verkraftet haben?

 

Die Kinder und Jugendlichen haben das ganz unterschiedlich erlebt. Die einen haben viel Zeit mit ihren Eltern verbracht, sehr viel Nähe und Zuwendung erfahren. Schwieriger war es für Kinder, die mit vielen Familienangehörigen auf engstem Raum leben und nicht auf den Spielplatz gehen konnten. Allerdings können auch Kinder mit Haus und Garten gelitten haben, etwa wenn beide Elternteile sehr viel im Homeoffice arbeiten mussten. Viele Schülerinnen und Schüler haben sich einsam gefühlt und die Freunde vermisst. In einigen Familien kam es oft zu Streit bis hin zu Gewalt. Wie stark sich der Stress auswirkt, ist immer abhängig davon, wie gut sie auf vorhandene Ressourcen zugreifen können.

 

Mit welchen Auswirkungen auf das Verhalten ist zu rechnen?

 

Einige ziehen sich zurück, sind auffällig ruhig. Anderen geht es nicht gut, sie klagen über Kopf- und Bauchschmerzen. Oder sie sind aufgedreht, unruhig, eventuell auch aggressiv. Bei Jugendlichen kann es auch vorkommen, dass sie zu Alkohol oder anderen Drogen greifen. Insgesamt gilt: Lehrkräfte sollten immer aufmerksam werden, wenn sich das Verhalten stark verändert hat und über längere Zeit bestehen bleibt.

 

Wie sollten Lehrkräfte damit umgehen?

 

Für einen gewissen Zeitraum ist es in Ordnung, wenn Kinder und Jugendliche ihren Stresspegel so zu regulieren versuchen. Wenn Lehrkräfte jedoch merken, dass die Symptome anhalten, sollten sie weitere Unterstützung hinzuziehen: Schulsozialarbeit, sozialpädagogische Fachkräfte, Schulseelsorge oder die Schulpsychologie. Ratsam ist auch, die Eltern ins Boot zu holen und gemeinsam die Frage zu klären: Was können wir tun, damit es dem Kind besser geht?

Wie sinnvoll ist es, dass Lehrkräfte direkt wieder normal Unterricht machen?

 

Von anderen Krisen wissen wir, dass viele Schülerinnen und Schüler relativ schnell wieder diesen gewohnten Unterrichtsrahmen haben wollen. Ihnen tut es gut, in der Klasse dabeizusitzen, auch wenn sie vielleicht nicht so konzentriert mitmachen. Deshalb ist es gut, diese bekannte Alltagsstruktur anzubieten. Allerdings sollten Lehrkräfte zu Beginn flexibel sein und für Schülerinnen und Schüler, die sich noch auf keinen Unterricht einlassen können, alternative Angebote einplanen. Dabei kann man auch die Schulsozialarbeit oder andere Unterstützungssysteme der Schule einbinden.

 

Was sollte noch beachtet werden?

 

Wichtig ist, viel Zeit für Gespräche einzuplanen. In der Grundschule sind Übungen sinnvoll, um Erlebnisse spielerisch zu verarbeiten. In höheren Klassen sollten Lehrkräfte dafür sorgen, dass sich die Jugendlichen mit ihrer Peergroup austauschen können. Zum Beispiel bei Spaziergängen oder Ausflügen. Auch eine gemeinsame Frühstückspause ist eine gute Möglichkeit, um ungezwungen ins Gespräch zu kommen – natürlich alles im Rahmen der Hygienevorschriften.

Empfehlenswert ist es, alle Sinne anzusprechen

 

Worauf kommt es in diesen Gesprächen besonders an?

 

Gesprächsimpulse können zum Beispiel sein: Was war in dieser Woche gut? Was hat dir geholfen? Wer hat dir geholfen? Was hilft dir, wenn du genervt oder gestresst bist? Was würdest du einem Außerirdischen erzählen, wenn er dich dazu befragt, warum jetzt alle Masken tragen? Für die Krisenbewältigung kann es hilfreich sein, mit den Jugendlichen zu überlegen: Was tut mir gut, und was hat mir auch vor der Krise gutgetan? Sich beim Sport auszupowern oder mit der Oma zu telefonieren beispielsweise. Dabei hat sich das sogenannte BASIC-Ph-Modell bewährt. Lehrkräfte können die Bewältigungsstrategien dieses Modells vorstellen, Erfahrungen austauschen und Handlungen zuordnen lassen. Ziel ist es, Ressourcen zu aktivieren. Kindern und Jugendlichen soll bewusst werden, dass sie bereits über hilfreiche Strategien verfügen, um gut mit Stress umzugehen.

 

Wie sollten Lehrkräfte reagieren, wenn Schülerinnen und Schüler nicht in großer Runde sprechen wollen?

 

Vielen tut es gut zu hören, dass andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Aber es gibt immer Kinder und Jugendliche, die nichts sagen oder hören möchten. Das ist in Ordnung. Wer nicht möchte, braucht nicht mitzumachen und kann andere Möglichkeiten nutzen, um Stress abzubauen. Zum Beispiel eine Runde über den Hof rennen oder eine Geschichte aufschreiben.

 

Wie können Bewältigungsstrategien im Schulalltag gestärkt werden?

 

Empfehlenswert ist, alle Sinne anzusprechen. Die Klasse kann auch kreativ werden: ein Plakat basteln, einen Blog erstellen oder ein Video drehen. So können die Kinder und Jugendlichen verarbeiten, was sie erlebt haben und mitteilen, was ihnen wichtig ist. Zudem ist alles gut, was generell Stress reduziert: viel Bewegung, Entspannungs- und Atemübungen oder Geschichtenvorlesen. Und mehr und längere Pausen. Am Anfang sollten Lehrkräfte auch noch etwas damit warten, bis sie zum Beispiel Vokabelkontrollen durchführen. So etwas sorgt für zusätzlichen Stress.

Welche konkreten Tipps zur Bewältigung gibt es noch?

 

Jüngere Kinder können an ihrer linken Hand fünf Fähigkeiten abzählen, die ihnen in schweren Zeiten besonders helfen, um sich so ihrer Ressourcen bewusst zu werden. Die Finger der rechten Hand stehen für fünf Personen, auf deren Unterstützung sie sich verlassen können. Oder die Kinder können sich ein Tier als Symbol ausdenken und mit Fähigkeiten ausstatten, die ihnen in einer Krise guttun. Dieses Zaubertier können sie malen oder basteln – und bei sich tragen wie einen Anker. Dadurch werden sie daran erinnert, was sie können. Lehrkräfte können dieses Zaubertier auch später nutzen und etwa vor einer Klassenarbeit gezielt aktivieren.

 

Von normalem Schulalltag kann noch keine Rede sein. Klassen sind geteilt, Stundenpläne reduziert, es gelten Abstands- und Hygieneregeln. Wie können Lehrkräfte der Verunsicherung entgegenwirken?

 

Masken und Abstandsregeln können Kinder und Jugendliche unter Umständen belasten. Vor allem, wenn es ihnen schwerfällt, die Maßnahmen einzuhalten und sie immer wieder ermahnt werden. Deshalb sollten neue Rituale in die Abläufe eingebaut werden. Zum Beispiel waschen alle immer zuerst die Hände, wenn sie das Klassenzimmer betreten. Kinder und Jugendliche gewöhnen sich relativ schnell um, wenn man ihnen altersgemäß und sachbezogen die Gründe erklärt.

 

Auch Verschwörungstheorien können verunsichern.

 

In jeder Altersstufe sollten Lehrkräfte das Thema nicht abtun, sondern ernsthaft aufgreifen. Im Internet gibt es viele Tipps, wie sich Fake News im Unterricht thematisieren lassen: Gute Handreichungen gibt es zum Beispiel auf schau-hin.info und klicksafe.de. Lehrkräfte sollten Schülerinnen und Schülern beibringen, bei Meldungen genau hinzuschauen und Alternativen anbieten, etwa bei ZDF logo! nach Fakten zu suchen.

 

Wie lange wird das Thema Corona noch an den Schulen bewältigt werden müssen, was meinen Sie?

 

Auch wenn sich nach ein paar Wochen wieder mehr Routine einstellt, sollten Lehrkräfte das Thema noch länger im Blick behalten. Vor allem nach den Sommerferien 2020 sollten sie erneut Gesprächsangebote machen. Und sich bewusst sein, dass Posttraumatische Belastungsstörungen auch noch Monate nach einem Krisenereignis auftreten können.

 


Das Interview führte Kathrin Hedtke, freie Journalistin.

redaktion.pp(at)universum.de

Das BASIC-Ph-Modell

 

Entdecke, was Dir in einer vergangenen schwierigen Situationen geholfen hat, um eine aktuelle Krise zu bewältigen: So lautet die Grundidee des BASIC-Ph-Modells. Wichtig: Verschiedene Menschen profitieren von unterschiedlichen Strategien, die sich in sechs Untergruppen aufteilen lassen:

 

Belief: Kindern und Jugendlichen, die Stress nach diesem Prinzip bewältigen, hilft es, sich auf ihre Überzeugungen und Werte zu verlassen (zum Beispiel an einen Sinn zu glauben, Gefühle der Hoffnung wahrzunehmen oder sich selbst als bedeutsam zu erleben). Die Überzeugungen sind häufig angelehnt an eine Religion oder spirituelle Überzeugungen.

Beispiele: „Mir hat es geholfen zu beten“, „Ich glaube, dass Gott/Allah gut auf mich aufpasst“, „Wenn wir alle zusammenhalten, dann schaffen wir es“.

 

Social: Kindern und Jugendlichen, die Stress nach diesem Prinzip bewältigen, hilft es, ihre Emotionen mitzuteilen und diese auszudrücken (etwa Tagebuch schreiben, weinen, lachen, wütend sein, zeichnen).

Beispiele: „Ich habe viel zu Hause gemalt“, „Ich habe Tagebuch geschrieben“, „Manchmal hat es mir gutgetan, ganz laut zu schreien“, „Ich habe mir mit meiner Schwester Witze erzählt und dann ging es mir besser“.

 

Imagination: Kindern und Jugendlichen hilft es, Rückhalt durch ihre Familie und Freunde zu erleben (zum Beispiel Austausch und Zusammensein mit anderen, Wahrnehmung einer sozialen Rolle oder Aufgabe innerhalb eines Systems).
Beispiele: „Ich fand es schön, dass meine Mama so viel zu Hause war“, „Mir hat es geholfen, mit meiner Freundin/meinem Freund zu telefonieren, zu videochatten“, „Ich habe meine Eltern unterstützt, wenn ich beim Tischabräumen geholfen habe“.

 

Cognitive: Diesen Kindern und Jugendlichen hilft kreatives Denken, ihre Fantasie zur Spannungsreduktion und zum Perspektivwechsel zu nutzen (etwa durch Tag-Träume, Rollenspiele, Humor, Kunst, Musik).
Beispiele: „Ich konnte gut abschalten, wenn ich meine Lieblingsmusik gehört habe“, „Ich habe mich an einen Urlaub/ein schönes Geschenk erinnert, wenn es mir nicht gutging“, „Ich konnte gut abschalten, wenn ich auf der Gitarre gespielt habe“.

 

Physiological: Kindern und Jugendlichen, die Stress nach diesem Prinzip bewältigen, hilft es, Informationen einzuholen und Wissen und Logik zur Ablenkung zu nutzen (zum Beispiel Matheaufgaben lösen, ein Sudoku bearbeiten, Pläne/Regeln für den Tag aufstellen).
Beispiele: „Ich konnte immer gut bei meinen Schulaufgaben abschalten“, „Ich möchte einfach wieder normal Mathe/Deutsch/Englisch machen und nicht über Corona oder meine Gefühle reden“, „Ich habe mir immer eine feste Tagesstruktur vorgenommen“.

 

Affect: Kindern und Jugendlichen hilft es, sich körperlich zu betätigen oder bewusst zu entspannen (spazieren gehen, Sport treiben, Spiele spielen, essen, schlafen, Meditation)
Beispiele: „Mir hilft es, joggen zu gehen, um den Kopf auszuschalten“, „Manchmal tut mir ein Stück Schokolade richtig gut“, „Ich habe über YouTube Fitness-Videos gemacht“, „Ich war häufig mit meinem Hund draußen“.

 

Quellen:

  • Schulbeginn nach der coronabedingten Schulschließung. Interne Schulpsychologische Informationen und Empfehlungen für Lehrerinnen und Lehrer. Schulpsychologischer Dienst, Staatliches Schulamt für den Landkreis Offenbach und die Stadt Offenbach am Main, Offenbach im April 2020.
  • Literaturhinweis zum BASIC-Ph-Modell: Lahad, M. & Leykin, D. (2013). The Integrative Model of Resiliency – The ‚Basic Ph‘ Model, or What Do We Know about Survival? In: Lahad, M., Shacham, M., Ayalon, O. (eds.). The „BASIC Ph“ Model of Coping and Resiliency (S. 9-30). London: Kingsley

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