Der Dienstplan ist seit Wochen fertig. Doch heute Morgen kommt alles anders, vielleicht wegen des trüben Dezemberwetters: Viele Eltern sagen kurzfristig ihren Pausendienst ab. Beherzt greift Amelie Busch zum Telefonhörer. „Es gibt immer mal Absagen, das ist unser tägliches Brot.“ Jetzt zahlt es sich aus, dass die Koordinatorin für Elternmitarbeit gut vernetzt ist: Pünktlich zum Gong um 10.25 Uhr sind ausreichend Väter und Mütter anwesend, um während der Pause Brötchen und Getränke auszugeben.
Was andernorts Caterer erledigen, ist in der Bochumer Gesamtschule fest in Elternhand. Täglich servieren Mütter und Väter dem Nachwuchs das vom schuleigenen inklusiven Mensaunternehmen „Villa Claudius“ produzierte Frühstück und Mittagessen. Auf diese Weise reduzieren die sechs Helferinnen und Helfer pro Pause die Wartezeiten an den Ausgabestellen. Den Kindern und Jugendlichen bleibt mehr Zeit zum Rumtoben und Regenieren.
Abgesehen von den günstigeren Verpflegungspreisen, hat der Eltern-Einsatz einen weiteren positiven Effekt: Die Atmosphäre in der Schule ist familiär. „Ein gutes Miteinander ist uns wichtig“, erklärt Amelie Busch das Konzept christlichen Schule in freier Trägerschaft. Täglich Essen und Getränke an bis zu 900 Kinder und Jugendlichen auszugeben, das ist eine Mammutaufgabe. Rund 200 Eltern helfen regelmäßig mit.
Damit immer genügend Helfer da sind, schreiben die Koordinatorinnen für Elternmitarbeit Einsatzpläne im Zweiwochen- Turnus. Maja Reich und Amelie Busch sind mit Diensthandy ausgerüstet, um schnell und flexibel mit den Eltern zu kommunizieren. „Gute Kommunikation ist das A und O“, berichtet Amelie Busch.
Netzwerken mit der Elternschaft zählt zu den wichtigsten Funktionen der Koordinatorinnen. Schon bei Info-Veranstaltungen vor der Einschulung machen sie sich als Ansprechpartnerinnen bekannt. „Viele Eltern wollen gern ihre Kinder an der Matthias- Claudius-Schule unterbringen. Insofern befinden wir uns in einer dankbaren Position“, erklärt Maja Reich.
Die beiden Teilzeit-Kräfte teilen sich ein Büro im Schulgebäude, in dem sie die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Eltern planen. Was benötigt wird, zeigt ein Blick auf die Schul-Webseite: Gesucht werden Mitstreiter für Technik-Team, Mensa und die Schulbibliothek. Apropos: Die Schulbücherei wird von Eltern komplett in Eigenregie geführt.
Außerdem pflegen Mütter und Väter Bäume auf dem Schulgelände, übernehmen Reparaturen, begleiten Ausflüge oder leiten Ganztages-Workshops. Man hat den Eindruck: Eltern halten den Schulbetrieb am Laufen.
In der Sporthalle kniet Oliver Orzel auf dem Boden – und dreht am Rad. Genauer gesagt ist es das Laufrad eines Sportrollstuhls. Seit drei Jahren repariert der Vater zweier Kinder 18 schuleigene Roll-stühle. „Ich arbeite in zwei Wochen etwa anderthalb bis zwei Stunden in der Schule“, berichtet der Ingenieur und Schlosser.
Warum gibt es an der Schule so viel Elternengagement? „Wir sagen oft: Wenn Sie ihr Kind anmelden, melden Sie sich auch selbst an“, erklärt Stefan Osthoff. Das ist ganz ernst gemeint. Der Didaktische Leiter, zuständig für die pädagogische Arbeit an der Schule, verweist auf die Schulverträge. Damit verpflichten sich Eltern schriftlich, ehrenamtlich im Schulalltag mitzuhelfen.
Zurück geht die Idee der Elternmitarbeit auf den christlich inspirierten Gründungsgedanken in den 1980er-Jahren. Damals wollte man keine konventionelle Bildungseinrichtung, sondern eine Schule, in der Eltern und Jugendliche mitgestalten und mitverwalten. Und mitentscheiden: Im Verwaltungsrat der Schule stimmen Eltern sowie Schülerinnen und Schüler über alle Projekte mit ab.
Die starke Eltern-Beteiligung ist sicherlich ein Grund für das positive Schulklima. „Kommunikation erzeugt Nähe und Vertrauen. Dadurch, dass man sich kennt, ist vieles einfacher“, berichtet Stefan Osthoff. Ebenso dürfte das christlich geprägte Menschenbild der Schule eine Rolle spielen, das auf Engagement und Wertschätzung setzt. „Viele Besucher sagen: Ihr habt eine tolles Schulklima, das spürt man“, sagt der 56-Jährige.
Wie behält man im Blick, ob Eltern ihre Mitarbeit vereinbarungsgemäß leisten? Dazu hat man sich an der Gesamtschule den Selbsteinschätzungsbogen ausgedacht. Zum Schuljahresende notieren Eltern, wie viele Stunden sie bei welchen Schulprojekten geleistet haben. Richtwert sind pro Familie 24 Stunden im Jahr. „Zu unserem Menschenbild gehört es auch, dabei individuelle Lebenssituationen von Eltern zu berücksichtigen“, sagt Osthoff.
Und wer vielbeschäftigt ist und die Zeit lieber mit seiner Familie verbringen möchte, kann anstelle der ehrenamtlichen Stunden spenden. Das ermöglicht es der Schule, die Gehälter der Koordinatorinnen für Elternmitarbeit zu bezahlen.
Der Didaktische Leiter berichtet, dass die Spenden-Option in der Elternschaft teils auch kritisch diskutiert wurde. „Die Befürchtung war, dass man sich vom Engagement freikaufen kann.“ Doch das Konzept funktioniert, weil die Koordinatorinnen den Schulalltag von viel Hektik, Stress und Organisationsarbeit entlasten.
Durch die starke Einbindung der Eltern gerät auch manche Schulroutine auf den Prüfstand. Neulich beriet das Schulkollegium: Können wir Eltern den Gebäudeschlüssel aushändigen? Das Fazit war: „Wir müssen Verantwortung abgeben, und wir machen das jetzt.“
Oliver Orzel, der ehrenamtliche Rollstuhl-Mechaniker, ist über diese Flexibilität froh. Bei seinen Reparaturarbeiten ist er jetzt nicht mehr abhängig von den Öffnungszeiten der Schule.
Stefan Osthoff berichtet über die starke Rolle der Eltern an der Matthias-Claudius-Schule Bochum. Als Didaktischer Leiter ist er für die pädagogische Arbeit der Schule verantwortlich.
Herr Osthoff, welche Angebote wären ohne Eltern nicht möglich?
Ohne Eltern gäbe es an der Schule bei weitem nicht so vielfältige pädagogische Angebote, keine Schulbibliothek und auch nicht so einen reichhaltigen Pool an unterstützenden Materialien.
Wie vermitteln Sie die hohen Erwartungen, die Sie an Eltern haben?
Wir veranstalten zum Schuljahresbeginn Elternseminare mit drei Abendterminen. Dabei stellen wir die Grundpfeiler unseres pädagogischen Konzepts ausführlich vor. Neben einer Abteilungsleitung sind da auch immer erfahrene Eltern als Referenten dabei, die unseren Schulalltag schon länger kennen.
Sie möchten, dass Eltern nicht nur mitarbeiten, sondern auch mitentscheiden. Was heißt das konkret?
Es gibt einen Verwaltungsrat. Darin vertreten sind Eltern mit Sitz und Stimme ebenso wie Vertreter der Lehrkräfte, Schulträger, Schulleitung und Schülerinnen und Schüler. Der Verwaltungsrat tagt einmal im Monat. Er entscheidet etwa über die Einstellung eines neuen Schulleiters oder Digitalisierungskonzepte. Auch der Selbsteinschätzungsbogen zur Elternmitarbeit wurde dort beschlossen.
Wie danken Sie den Eltern für ihr Engagement?
Wir veranstalten alle zwei Jahre eine vom Schulträger finanziell unterstützte Dankeschön-Party. Dann bedienen Leitung und Kollegium die Eltern. Diese Party gibt es schon seit 1990. Außerdem dürfen Eltern eine Sporthalle an einem Abend pro Woche nutzen.
René de Ridder, Redakteur (Universum Verlag), Wiesbaden