Musiklehrer ohne Augenlicht und Gehör? Wie das im Alltag funktioniert, demonstriert Franco Kratzenstein. Er vermittelt an einer Gesamtschule die Grundlagen des Schlagzeugspiels. Ein Besuch im nordrhein-westfälischen Solingen.
Eben war es noch ein relativ stiller Freitagnachmittag. Doch innerhalb von Sekunden wächst das Murmeln, Reden und Stühle-Rumpeln zu einem heftigen Lärmpegel heran. Souverän sorgt Franco Kratzenstein in der Arbeitsgemeinschaft für Ruhe: „Es ist mir zu laut!“ Die Jugendlichen beruhigen sich wieder – jedenfalls für ein paar Minuten.
Der an- und abschwellende Lärm der Siebtklässler muss sich für den freiberuflichen Musiklehrer wie ein Orkan anhören. Sein Hörgerät verstärkt Geräusche auf 100 Dezibel: Das entspricht in etwa der Lautstärke eines Presslufthammers.
Der 55-Jährige ist taubblind, er hat das Usher-Syndrom. Neben den Beeinträchtigungen des Hörens verschlechtert sich seine Sehfähigkeit stetig. An den meisten Tagen kann er in einem zentimetergroßen Sichtfenster etwas erkennen, zum Beispiel große, kontrastreiche Schrift. „Das hängt von meiner Tagesform ab“, erklärt er.
Dreimal pro Woche betreut der Musiklehrer eine Trommel-AG an der Gesamtschule Höhscheid. An diesem Freitag absolvieren die Teenager Dehn- und Aufwärmübungen mit Drumsticks, anschließend üben sie Taktmuster auf schwarzen Trommel-Pads. Eine Schülerin hebt den Arm zu einer Frage. „Eine Wortmeldung?“, bemerkt der blinde Musiker.
Zuvor hat ihm Caterina Heil-Princi ein Klopfzeichen am Arm gegeben. Die Taubblinden-Assistentin begleitet ihn regelmäßig im Unterricht. Sie liefert Hinweise zum Klassengeschehen, etwa mit der Klopfsprache oder dem Lorm-Alphabet: Dabei verständigt man sich per Tastsignal auf der Handinnenfläche. So erfährt er umgehend, ob sich in der Klasse gerade jemand meldet oder auf den hinteren Bänken Unsinn macht – und kann dann sofort eingreifen.
Apropos Unsinn: Jahrelang unterrichtete Franco Kratzenstein Jugendliche, die auf die schiefe Bahn geraten waren. Eine „Kraftmaschine“, um Wut rauszulassen, das ist für ihn das Schlagzeug. Zugleich ist es eines der schwierigsten Instrumente der Welt mit hohen Anforderungen an Motorik, Koordination und Konzentration. „Spiel mal gleichzeitig mit der rechten Hand eine Triole, mit der linken eine Achtel-Note, mit den Füßen eine Viertel- und halbe Note“, beschreibt der Musiker die Herausforderung beim Spielen des Instruments.
Das Schlagzeug, Heilmittel für aus dem Takt geratene Leben? Ihm selbst eröffnete die Leidenschaft für Musik neue Perspektiven. Als sich die Hör- und Sehfähigkeiten des studierten Physikingenieurs vor Jahren verschlechterten und ebenso die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sagte seine Frau: „Warum gibst du nicht hauptberuflich Unterricht?” Daraufhin gründete er seine private Musikschule. Mittlerweile werden dort 16 Schülerinnen und Schüler im Alter von 12 bis 60 Jahren unterrichtet.
Als sich der Solinger vor einigen Monaten an der benachbarten Gesamtschule bewarb, zeigte die Schulleitung rasch Interesse. Gesprochen wurde über notwendige Hilfsmittel, es fanden Hospitanzen mit der Schulleitung statt. Danach ging es ohne große Startschwierigkeiten los. „Ich hatte den Eindruck, dass man sich an der Schule schon intensiv mit Inklusion beschäftigt hatte.“
An diesem Freitagnachmittag ist die AG zu Ende. Franco Kratzenstein packt die Drumsticks zusammen. Ist er eigentlich enttäuscht, wenn in der Gruppe immer wieder viel Zeit verloren geht, weil er für Ruhe und Konzentration sorgen muss?
Der freiberufliche Musiklehrer sieht das pragmatisch und gelassen. „Solche Stunden gehören zum Schulalltag einfach dazu.“
René de Ridder ist Redakteur, Universum Verlag (Wiesbaden).