Wenn Schülerinnen und Schüler sich plötzlich verändern, ist man als Lehrkraft meist ratlos. Dahinter können ernstzunehmende seelische Leiden stecken. Wie Lehrkräfte mit psychischen Erkrankungen in der Schule umgehen können, erklärt die Schulpsychologin Anna Sedlak. Frau Sedlak, warum werden psychische Erkrankungen von Schülerinnen und Schülern oft ausgerechnet im Schulalltag sichtbar?
Häufig fallen psychische Erkrankungen in der Schule auf, da Jugendliche dort sehr viel Lebenszeit verbringen. Das liegt auch daran, dass es dort besondere Anforderungen gibt. Schülerinnen und Schüler bewegen sich in Gruppen, müssen Lernanforderungen bewältigen, sich an soziale Regeln halten, sind nicht jederzeit selbstbestimmt. Durch diese Anforderungen kann man leichter an seine Grenzen geraten.
Welche psychischen Erkrankungen gibt es am häufigsten?
Neben Angststörungen und depressiven Erkrankungen gibt es häufig Aufmerksamkeitsdefizit-, Hyperaktivitäts-Störungen sowie Störungen des Sozialverhaltens (siehe Infokasten auf S. 7). Unseren Erfahrungen nach liegt die Häufigkeit von psychischen Auffälligkeiten insgesamt seit Jahren relativ stabil bei circa 20 Prozent. Während wir relativ gut darin sind, die Störungen zu erkennen, die mit störendem Verhalten verbunden sind, bleiben Angststörungen und depressive Erkrankungen oft länger unentdeckt, weil die Betroffenen sich zurückziehen, stiller werden und häufiger in der Schule fehlen. Psychische Störungen erhöhen insgesamt das Risiko von Klassenwiederholungen, andauerndem Fernbleiben von der Schule und Schulabbruch. Betroffene Kinder und Jugendliche erreichen häufig nicht den Schulabschluss, der eigentlich ihren Möglichkeiten entsprechen würde.
Welche Signale weisen auf Erkrankungen hin?
Bei Kindern und Jugendlichen ist es wichtig zu schauen, was im Entwicklungsverlauf normal ist und wo es Abbrüche gibt. Plötzliche Verhaltensänderungen sind eigentlich immer ein Warnsignal. Psychische Störungen zeichnen sich vor allem durch persönlichen Leidensdruck und Einschränkungen im Alltag aus. Bei Angststörungen ist die Angst stärker als im normalen Entwicklungsverlauf und hält länger an. Viele Kinder und Jugendliche kennen auch Schüchternheit oder die Sorge, sich zu blamieren, aber bei einer sozialen Phobie ist diese Angst sehr viel stärker ausgeprägt. Der Betroffene fängt an, Situationen, die angstbesetzt sind, zu vermeiden, und ist dadurch in seinem Alltag deutlich eingeschränkt. So kann es sein, dass die Angst davor, im Mittelpunkt zu stehen und negativ bewertet zu werden, so stark ist, dass es nicht mehr möglich ist, Referate zu halten, sich im Unterreicht mündlich zu beteiligen oder in der Öffentlichkeit zu essen oder zu schreiben.
Wie gesellschaftlich akzeptiert sind psychische Erkrankungen?
Für körperliche Erkrankungen gibt es immer noch eine sehr viel höhere Akzeptanz. Bei psychischen Erkrankungen herrscht oft noch die Haltung, man könne sich einfach zusammenreißen. So kann es zu einer Stigmatisierung kommen. Dem kann man als Lehrkraft entgegenwirken, indem man im Vorfeld mit Schülerinnen und Schülern darüber spricht. Das erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass Hilfe gesucht wird.
Sie empfehlen also, dass Lehrkräfte aktiv mit Erkrankungen umgehen?
Mit älteren Jugendlichen macht es Sinn, darüber zu sprechen. Und auch für Schulen ist es sinnvoll, einen kurzen Draht zu Beratungsstellen im Umkreis zu haben. Zum Beispiel kann man Kontaktdaten von Hilfestellen öffentlich aushängen. So lassen sich Hürden ein Stück weit abbauen.
Die Webseite www.schulpsychologie.de bietet ein Verzeichnis aller schulpsychologischen Beratungsstellen in Deutschland, geordnet nach Bundesländern. Zudem gibt es unter anderem Infos zu den Themen berufliche Belastungen, Gesundheit im Kollegium, Beziehungsgestaltung, Unterrichtsstörungen, Mobbing und Gewalt.
Das Interview führte Julia Höhn, Redaktion (Universum Verlag).