Foto: Dominik Buschardt

„Sind noch mitten in der Pandemie“

  • Schule als sicherer Ort entlastet Kinder und Jugendliche
  • Umgang mit besonders belasteten Schülerinnen und Schülern
  • Über soziale Medien Kontakte und Vertrauen schaffen

 

Warum es wegen Corona eine gute Idee ist, den Leistungsdruck in den Schulen zu verringern, wie Anzeichen von Traumafolgestörungen aussehen und welche Rituale im Schulalltag entlasten, erklärt die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Luzi Santoso.

 

Frau Santoso, wenn Sie sich ans Frühjahr erinnern: Wie hat der Corona-Lockdown Ihren Alltag als Therapeutin für Kinder und Jugendliche beeinflusst?

 

Das hat sich in vielerlei Hinsicht ausgewirkt. Zunächst mal mussten einige Therapeutinnen und Therapeuten klären, ob sie selbst zur Risikogruppe zählen und ihre Praxis weiterlaufen kann. Ich habe mich damals dazu entschieden, meine Praxis aufzulassen. Meine Erfahrung war, dass parallel zu den Schulschließungen laufende Therapien weggebrochen sind. Manche Familien haben sich gesagt: Wenn die Schule zu ist, gehe ich auch nicht mehr zur Therapie, in ein paar Wochen ist alles wieder wie immer. Als deutlich wurde, dass es so nicht ist, änderte sich die Nachfrage an therapeutischer Unterstützung langsam wieder. Glücklicherweise gab es bald die Möglichkeit, Beratungen per Video anzubieten, was den Kontakt zu vielen Patienten gesichert hat. Zugleich gab es aber auch vermehrt neue Anfragen nach dem Motto: Mein Kind hat Angst – können wir einen Termin bekommen?

„Je länger diese Krise andauert, desto stärker dringt sie in den Alltag von Kindern.“

 

Würden Sie sagen, es gibt viele Kinder und Jugendliche, die sich durch die Corona-Pandemie belastet fühlen?

 

Ich vermute, dass es deswegen in Ambulanzen und Kliniken verstärkt Anfragen gab. In einer so kleinen Praxis wie der meinen, ist mein Eindruck, werden die Effekte erst mit einer Zeitverzögerung sichtbar. Wir sind ja alle nach wie vor in einer unsicheren Situation und müssen den Umgang mit dem Corona-Virus erst lernen. Ich beobachte vor allem, dass Menschen stärker betroffen sind, die schon vor Corona vulnerabel für eine psychische Erkrankung waren und die sich jetzt wieder in der Praxis melden. Manche zeigen sich hier jedoch auch sehr stark und stabil, da sie aufgrund ihrer therapeutischen Vorerfahrungen gut mit Krisen umgehen gelernt haben und sich selbst gut kennen. Ich glaube, je länger diese Krise andauert, desto stärker dringt sie insgesamt in den Alltag von Kindern, Jugendlichen und deren Familien ein.

 

Können Sie ein Beispiel zum Begriff Vulnerabilität geben?

 

Vulnerabilität im Sinne einer Verletzlichkeit, einer erhöhten Empfindlichkeit, kann sich beispielsweise bei einer Angststörung so auswirken, dass davon betroffene Kinder und Jugendliche nun sehr wachsam, sensibel, hellhörig und ängstlich sein können und sich sehr gestresst fühlen. Die Konfrontation mit SARS-CoV-2 kann so wie ein Angst-Verstärker in vielen Lebensbereichen wirken. Dies führt dazu, Entscheidungen treffen zu müssen, die für einen Angst-Patienten schon ohne Pandemie herausfordernd sein können: Gehe ich vor die Haustür? Wen kann ich treffen? Wen umarme ich überhaupt noch?

„Lehrkräfte können und sollen nicht therapieren, aber sie können helfen, Verhalten zu entwickeln.“

 

Zum Schulalltag: Was können Sie Lehrkräften raten, wenn diese belastet wirkende Schülerinnen oder Schüler in der Klasse haben?

 

Lehrkräfte können und sollen nicht therapieren, aber sie können helfen, Verhalten zu entwickeln, das Belastung reduzieren kann: Kompetenzen fördern, Selbstwertgefühle aufbauen und verstärken. Vielleicht können sie mit Blick auf ihr eigenes Leben versuchen nachzuempfinden, wie es belasteten Schülerinnen und Schülern geht. Kinder und Jugendliche verspüren im Schulalltag oft einen immensen Druck. Aus meiner früheren Tätigkeit als Schulsozialarbeiterin weiß ich, dass es hilft, Schule als sicheren Ort zu etablieren, an den Kinder und Jugendliche gern gehen. An dem sie nicht zu viel Angst haben, sich wohlfühlen und wo nicht andauernd Druck herrscht. So kann die Angst, die es vor der Pandemie vielleicht schon gab, die jedoch nun verstärkt auftritt, verringert werden. Und wer den Spaß an der Bildung entdeckt, wird von seinen Ängsten auch ein Stück weit abgelenkt.

 

Schule als sicherer Ort – warum ist das aus psychologischer Sicht wichtig?

 

Wenn Kinder sich sicher fühlen, dann ist das ein wichtiger Faktor, dass sich trotz eines traumatischen Ereignisses keine posttraumatische Belastungsreaktion oder -störung entwickelt. Es ist gut, wenn es ein Umfeld gibt, in dem sich Kinder aufgehoben und in Kontakt mit anderen fühlen. So entstehen in schwierigen Zeiten vielleicht tendenziell weniger Traumafolgestörungen oder andere psychische Belastungen.

 

Was können Lehrkräfte denn machen, damit Kinder und Jugendliche ihre Schule als sicheren Ort wahrnehmen?

 

Nicht über Ängste hinweg arbeiten, sondern zu schauen: Ist meine Klasse gerade aufnahmefähig? Ist jeder in der Lage, dem Unterricht gut zu folgen? Wie schon gesagt, könnte ja auch fachlicher Stress und Leistungsdruck im Unterricht reduziert werden. Vielleicht einmal darauf hinweisen, dass auch die Note Drei eine zufriedenstellende Note ist und nicht jeder ein ‚Sehr gut‘ erreichen muss. Entlastend kann es auch sein, in der Schule darüber zu sprechen, wie sich Alltagsroutinen in unserem Leben aufgrund der Pandemie verändert haben.

 

Haben Sie Tipps, wie sich Erfahrungen und gewandelte Alltagsroutinen in der Klasse thematisieren lassen?

 

Freiwillige Gesprächsrunden sind eine Möglichkeit. Oder das Thema indirekt im Kunstunterricht angehen: Wie siehst du die Zukunft? Was hat dich beschäftigt? Das eröffnet Möglichkeiten, dass Kinder etwas loswerden und verarbeiten können. Ich finde bei solchen ‚Privatbereichen‘ nur wichtig klarzumachen: Es sollte frei von Notendruck sein, und das Kind darf jederzeit stoppen nach dem Motto: ‚Wenn dir das zu viel wird, gib Bescheid, warte einen Moment ab, wir werden eine Lösung finden‘.

Was tun, wenn ein Schüler oder eine Schülerin psychisch schwerer belastet er-scheint als andere in der Klasse?

 

Man kann sich fragen: Wie kommt mein Eindruck zustande, dass dieses Kind schwerer belastet ist als andere? Weil es dafür viele Gründe geben kann. Ist das Kind überhaupt verändert? Wirkt es hibbelig oder in einem eigenartigen Freeze-Zustand? Ist es ganz still, geht es gar nicht mehr in Kontakt zu den anderen? Dann kann man die Eltern einladen und im Gespräch klären: Was war eigentlich los in den letzten Monaten? Es muss ja nicht immer gleich ein Trauma oder ein überdauerndes schlimmes Ereignis geschehen sein.

 

Wo verläuft für Lehrkräfte die Grenze zwischen Zugewandtheit und dem Ende der Verantwortung?

 

Als Lehrkraft ist es der Optimalfall, wenn man ein Gesprächsangebot macht, dann aber auch sagen kann: Ich glaube, du brauchst Hilfe, und da gibt es diese und jene Adressen, bei denen du und deine Eltern Unterstützung finden können. Ohne dass dabei ganz tiefgehend über erlebte Ereignisse gesprochen wird, die ein Kind oder ein Jugendlicher erlebt hat. Geht es in Richtung Kindeswohlgefährdung in einer Familie, sollte man mit der Schulsozialarbeit kooperieren. Dort ist meist bekannt, wie man sich gegebenenfalls auch anonym beraten lassen kann. Bei Jugendämtern gibt es zur Beratung die insoweit erfahrenen Fachkräfte. Gut ist, wenn man sich guten Gewissens sagen kann: Mit dieser Vermittlung endet jetzt mein Zuständigkeitsbereich, ich gebe vertrauensvoll den Fall ab.

 

Sie gebrauchten eben den Begriff Traumafolgestörung. Was bedeutet das eigentlich genau?

 

Eine Traumafolgestörung kann sich entwickeln, wenn verschiedene Faktoren aufeinanderstoßen. Zum Beispiel nach einem oder mehreren schrecklichen Ereignissen, die geschehen sind, wie Kriegserlebnisse oder Naturkatastrophen. Da es nicht nur das Ereignis selbst ist, was zu einer solchen Störung führt, ist wichtig, gut zu explorieren und zu beobachten. Auch Ressourcen wie beispielsweise Kompetenzen, ein guter Freundeskreis, Selbstsicherheit, Bindungsmuster und Liebesfähigkeit spielen eine Rolle bei der Entstehung einer solchen Störung.

 

Wie erleben das die Betroffenen?

 

Eine Traumafolgestörung zu erleben, bedeutet unter anderem, manchmal unwillkürlich albtraumartige Tagträume bis hin zur Bewusstseinsstörung zu erleiden, sich emotional taub zu fühlen, ein Wiedererleben der Situation zu erfahren, ohne dies zunächst aktiv beeinflussen zu können. In diesen Momenten ist es nicht gut möglich, Distanz zum Erlebten schaffen zu können. Man kann sich das in der Behandlung sehr vereinfacht wie einen Schrank vorstellen, der komplett durcheinandergeraten ist und der neu aufgeräumt werden muss. Es kann sich hier unterschiedliches Verhalten zeigen: Kinder wirken wie eingefroren, sind unruhig oder aggressiv. Wichtig ist der individuelle Faktor: Jemand kann traumatische Ereignisse erleben, ohne dass eine Folgestörung eintritt. Und ob sich eine Traumafolgestörung entwickelt, zeigt sich oft erst im Lauf der Zeit.

 

Könnte die Pandemie unter Kindern und Jugendlichen verstärkt Traumafolgestörungen erzeugen?

 

Da muss ich spekulieren. Obwohl erste Studien dazu anlaufen, ist es zum jetzigen Zeitpunkt zu früh, das einzuschätzen. Wir sind ja gerade noch mitten im Pandemie-Ereignis. Aus therapeutischer Sicht können wir hier eine Stabilisierung anbieten.

Im Herbst gibt es wieder erhöhte Infektionszahlen. Wenn es monatelang so weitergehen sollte mit Alltagsbeschränkungen, wie kann man in den Schulen darauf reagieren?

 

Was sich durch Corona wirklich verändert hat: Wir sind, auch als Erwachsene, viel stärker dazu gezwungen, über soziale Medien Kontakt miteinander aufzunehmen. Ich glaube, dass das für den Schulalltag hilfreich ist. In meiner Praxis gab es schon die Rückmeldung von einigen Patienten, dass sie ihre Lehrer wenig bis gar nicht gesehen haben. Und das macht natürlich wenig bis gar keine Lust auf Schule. Es ist doch auch schön zu sehen, dass Lehrkräfte als Ansprechperson erwünscht sind und nicht nur als ‚Stoffvermittler‘. So bewirkt die Pandemie Veränderungsprozesse für uns: Wie geht man in Kontakt, wenn man sich nicht mal eben persönlich treffen kann?

 

Was würden Sie Schülerinnen und Schülern anbieten, wenn Sie ab morgen wieder als Schulsozialarbeiterin arbeiten würden?

 

Ich glaube, ich würde dafür sorgen, dass die Gruppen in der Schule möglichst klein sind, damit man jeden gut im Blick hat. Ich nehme an, ich würde versuchen, Rituale zu etablieren zum Erhalt der psychischen Gesundheit aller, die in der Schule sind.

 

Was wären das zum Beispiel für Rituale?

 

Solange das Wetter gut ist, kann man gut draußen sein und den Moment genießen. Atmen, achtsam werden, mit sich und anderen. Auch wenn sich das so einfach anhört, ist das sehr schwierig für viele. Eine andere Idee sind Bewegungsangebote mit Übungsmatten, bei denen alle auf ihrem Platz bleiben. Oder Tai-Chi-Übungen, bei denen man sich nicht gegenseitig berührt. Ich würde mir auch wünschen, die Lehrkräfte zu entlasten, weil ich denke, dass Schulalltag sehr anstrengend ist im Moment. Lehrkräfte müssen nicht perfekt sein, sie können ihr Netzwerk ausbauen, sich Unterstützung von anderen Professionen holen und sich selbst seelische Entlastung verschaffen.

 

Weitere Infos

  • Die Schulpsychologie Nordrhein-Westfalen bietet online einen Schwerpunkt „Schule und Corona“ an und liefert Informationen zum Thema Ängste: schulpsychologie.nrw.de
  • Ein Informationsangebot zu schulpsychologischen Themen für Eltern, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler bietet die Webseite: www.schulpsychologie.de
  • In der Ausgabe pluspunkt 3/2020 berichten wir im Beitrag „Alles ist gut, was Stress reduziert“ über das BASIC-Ph-Modell, das praktische Ideen für die Krisen- und Stressbewältigung im Schulalltag bietet. Die Ausgabe ist als Download unter www.dguv-lug.de, Webcode lug1076801, erhältlich.

 

Zur Person

 

Luzi Santoso ist niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin im hessischen Neu-Isenburg. Vor ihrer Arbeit als Therapeutin arbeitete die Diplom-Pädagogin unter anderem im Landkreis Offenbach als Schulsozialarbeiterin an einer Gesamtschule mit 1.200 Schülerinnen und Schülern.

 


René de Ridder, Redakteur (Universum Verlag)

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