Feste Abläufe, klare Ansagen, wenig Ablenkung: Kommt ein Kind mit Störung aus dem Autismus-Spektrum neu in die Klasse, müssen Lehrkräfte ihren Unterricht meist anpassen. Förderschullehrerin Katja Gregor von der Brückenschule Wiesbaden ist überzeugt: Davon profitieren alle.
Worauf sollte eine Lehrkraft vorbereitet sein, wenn ein Kind mit Autismus in die Klasse kommt?
Katja Gregor: Wichtig zu wissen ist, dass die Unterschiede sehr groß sind: Das Spektrum reicht von Kindern, die nicht sprechen können und lebenslang intensive Unterstützung brauchen, bis zu solchen mit Hochbegabung. Jedes Kind, jeder Jugendliche ist also anders. Doch auf fast alle trifft zu, dass sie eine komplett andere Wahrnehmung haben. Sehen, schmecken, hören, riechen, fühlen: Viele reagieren extrem empfindlich auf Sinneseindrücke. Hinzu kommt, dass Autismus oft einhergeht mit Begleiterkrankungen wie Angstzuständen, ADHS, Zwängen oder Depressionen.
Wie erleben diese Kinder einen normalen Schultag?
Katja Gregor: Die Schule stellt eine totale Reizüberflutung dar. Einige Kinder empfinden Neonlicht als extrem anstrengend, für andere tickt die Uhr im Klassenzimmer unerträglich laut. Wenn Mitschülerinnen oder Mitschüler in ihren Ranzen nach Heften suchen oder draußen ein Auto hupt, können sie solche Geräusche nicht ausblenden. Beim Frontalunterricht kommt die Information deshalb oft gar nicht bei ihnen an.
Wie reagieren die Kinder darauf?
Katja Gregor:Wenn der Druck zu groß wird, schalten sie irgendwann ab. Jedes Kind hat ein anderes Ventil. Einige gehen in den Rückzug, halten sich die Ohren zu oder setzen sich unter den Tisch. Andere schreien laut, haben einen starken Bewegungsdrang oder stimulieren sich, indem sie hin und her schaukeln.
Wie sollte die Lehrkraft mit so einer Situation umgehen?
Katja Gregor: Meist hilft eine kurze Pause. Im Idealfall sollte eine Lehrkraft frühzeitig Stressfaktoren erkennen. Wenn ein Kind zum Beispiel nicht lange im Stuhlkreis sitzen kann, sollte es so lange eine andere Aufgabe bekommen. Ist eine Störung im Autismus-Spektrum diagnostiziert, hat das Kind das Recht auf eine Schulbegleitung. Alleine kann eine Lehrkraft das gar nicht schaffen.
… und wenn keine Schulbegleitung dabei ist?
Katja Gregor:Das Problem ist, dass die Schulbegleitung leider nicht die komplette Zeit dabei ist. In Hessen sind zum Beispiel 15 Stunden pro Woche vorgesehen. Das macht es für die Lehrkraft schwer, schließlich darf sie kein Kind alleine lassen. Daher ist das A und O, sich mit den Eltern abzusprechen und möglichst viele Informationen zu sammeln: Was tut dem Kind in einer Krise gut? Ein Kind beruhigt zum Beispiel ein bestimmtes Comicheft oder Kuscheltier. Im Idealfall kann man im Klassenzimmer eine Ausruhecke einrichten, die mit einem Regal etwas abgetrennt ist.
Autismus ist eine angeborene tiefgreifende Störung der Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung im Gehirn, die sich schon im frühen Kindesalter bemerkbar macht. Charakteristisch sind folgende Merkmale:
Es gibt unterschiedliche Ausprägungen, die unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst werden:
Was kann die Lehrkraft tun, um dem Kind den Schulalltag etwas zu erleichtern?
Katja Gregor: Die Lehrkräfte sollten sich bemühen, möglichst viel Struktur in den Unterricht zu bringen. Nichts ist für die Kinder schlimmer als unvorhersehbare Situationen. Eine Vertretungskraft kann für sie eine extreme Belastung bedeuten. Mit klaren Tagesabläufen kann man den Kindern ein Sicherheitsgefühl geben. Sie wissen: Frühstück, Pause, Unterricht, Schulschluss, alles ist wie immer, nur eben etwas anders.
Welche Tipps gibt es noch?
Katja Gregor: Sinnvoll ist auch eine zeitliche Orientierungshilfe, damit klar ist, wie viel Zeit für eine Aufgabe bleibt. Zum Beispiel kann man eine Uhr einstellen, die rückwärts läuft. Außerdem sollte die Lehrkraft versuchen, die Reize so gering wie möglich zu halten. Auf den Tisch kommt nur, was gerade gebraucht wird: Bleistift, Radiergummi, der Rest bleibt im Schulranzen. Dadurch gibt es weniger Unruhe und Ablenkung. Auch Kopfhörer können Kindern helfen, sich besser zu konzentrieren.
Worauf sollten die Lehrkräfte besonders achten?
Katja Gregor:Die Lehrer sollten auf ihre Sprache achten. Kinder mit Störungen aus dem Autismus-Spektrum nehmen Aussagen oft wörtlich. Sie brauchen präzise Ansagen. Wichtig ist eine visuelle Unterstützung, zum Beispiel einen Zettel auf den Platz legen: „Bitte gelbes Heft rausholen.“ Kurze Schlagworte oder Bilder als Gedankenstütze kann man gut in den Unterricht einbauen.
Wie sollte sich eine Schule vorbereiten?
Katja Gregor: Wichtig ist, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Das scheitert manchmal an Zeit- und Personalmangel. Dann kann es schwierig sein, jedem Kind gerecht zu werden. Deshalb ist es für Schulen wichtig zu wissen: Sie werden nicht alleine gelassen. Die Lehrkräfte können sich von Fachleuten unterstützen und beraten lassen. Außerdem können sie Fortbildungen besuchen.
Können Lehrkräfte und Klassen auch von der Inklusion profitieren?
Katja Gregor: Es ist eine Herausforderung, die man annehmen sollte. Zehn Jahre hat der Unterricht vielleicht gut funktioniert, doch dann kommt dieses besondere Kind und plötzlich wird Bewährtes in Frage gestellt. Das ist eine Chance, mal etwas anders zu machen. Das tut der ganzen Klassengemeinschaft gut. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass gerade in Grundschulen alle Schülerinnen und Schüler davon profitieren.
Interview: Kathrin Hedkte, freie Journalistin aus Wiesbaden