Seit über 40 Jahren setzt Wiesbaden in sozial benachteiligten Stadtteilen stark auf Schulsozialarbeit. Die Fachkräfte sind regelmäßig im Unterricht dabei und bauen langfristige Beziehungen auf. Ziel ist es, alle Schülerinnen und Schüler fit für Ausbildung und Beruf zu machen.
Als Eva Motyka das Klassenzimmer der 5b betritt, springt direkt ein Junge in der letzte Reihe auf und ruft freudig: „Frau Motyka, ich bin heute pünktlich zur Schule gekommen!“ – „Sehr schön“, lobt die Schulsozialarbeiterin. Sie packt buntes Papier aus, Scheren und Klebeband. Die Aufgabe: Je vier, fünf Kinder sollen zusammen einen Turm basteln, so hoch wie möglich. Die meisten gucken ratlos, einige kichern. „Ihr habt Zeit bis 9.20 Uhr. Los geht’s.“ Mit der Aufgabe will Eva Motyka die sozialen Kompetenzen der Kinder stärken und die Teamarbeit fördern.
Die Schulsozialarbeiterin kommt jeden Montag in die Klasse der Wilhelm-Heinrich-von-Riehl-Schule in Wiesbaden. Ihr Unterricht steht fest im Stundenplan. „Meine Lieblingsstunde“, sagt Hüssein. „Weil wir immer spielen und Spaß haben.“ Tatsächlich geht es dabei um mehr. Schulsozialarbeit hat in Wiesbaden einen hohen Stellenwert. „Im Idealfall begleite ich die Schülerinnen und Schüler durchgehend von der fünften bis zur zehnten Klasse“, berichtet Motyka.
Über die Jahre baut sie Vertrauen auf: Sie kennt die Familien, die Probleme zu Hause und in der Schule. „Da, wo wir sind, sind wir richtig“, erklärt Dan Goldman, Abteilungsleiter der Wiesbadener Schulsozialarbeit, den Ansatz. „Nur so lässt sich Wirkung erzielen.“ Eine Fachkraft ist im Schnitt für rund 150 Schülerinnen und Schüler zuständig, etwa sechs Klassen.
Viele Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule im Wiesbadener Stadtteil Biebrich seien belastet, so Sozialarbeiterin Motyka. „Da braucht es mehr, als nur Wissen zu vermitteln. Unsere Aufgabe ist es zu gucken, dass sie alle Kompetenzen fürs Berufsleben erwerben. Dazu gehört zum Beispiel, morgens pünktlich zu sein.“
Wie können Kommunen für den Ausbau der Schulsozialarbeit werben? Und was tun, wenn die Ressourcen zunächst knapp sind? Ein Gespräch mit Dan Pascal Goldmann, Abteilungsleiter für Schulsozialarbeit, Stadtverwaltung Wiesbaden.
Wiesbaden steckt viel Geld in die Schulsozialarbeit, vor allem in benachteiligten Stadtvierteln. Warum ist der Kommune die Unterstützung von Schülerinnen und Schülern so viel wert?
Dan Goldmann: Wir arbeiten nach einem klaren gesetzlichen Auftrag. Der Paragraf 13 im Sozialgesetzbuch VIII schreibt vor: Wer im Kinder- und Jugendalter benachteiligt ist, dem sollen im Rahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische Hilfen angeboten werden, die die schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern. Das gilt für jede Kommune in Deutschland. Allerdings ist nicht vorgeschrieben, wie viel Geld dafür aufgebracht werden muss. Da ist die Jugendhilfe in Wiesbaden sehr vorbildlich. Die Stadt stellt etwa 100 Vollzeitstellen für die Schulsozialarbeit zur Verfügung.
Wie haben Sie das erreicht?
Dan Goldmann: Wir haben die Schulsozialarbeit vor 40 Jahren zunächst in einem Stadtteil aufgebaut, der beson-ders benachteiligt war. Hier konnten wir alle Schülerinnen und Schüler errei-chen. Mit den Erfahrungen aus diesem Projekt konnten wir relativ schnell eine gute Strategie entwickeln. Das Modell wurde sukzessive ausgeweitet. Heute ist die Schulsozialarbeit an allen Schu-len verankert, an denen eine erhöhte Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern angenommen wird.
Welchen Tipp können Sie daraus ableiten?
Dan Goldmann: Es gibt Schulen mit einer halben Sozialarbeiterstelle für 1.000 Schülerinnen und Schülern. Das kann keine Wirkung entfalten. Bei uns ist eine Fachkraft im Schnitt für 150 Kinder zuständig, das entspricht sechs Klassen. Mein Rat: klein anfangen. Wenn Sie nur eine Stelle für Schulsozialarbeit haben, sollten Sie diese nicht auf die ganze Schule verteilen, sondern erst einmal nur auf einen Jahrgang. Sinnvoll ist zum Beispiel, in den fünften und sechsten Klassen anzufangen. Mit den guten Erfahrungen können Sie für Akzeptanz werben. Im nächsten Schritt können Sie das Angebot ausweiten. Wichtig ist der politische Wille. In Wiesbaden steht die Politik hinter dem Konzept, unabhängig von Parteien.
Inwiefern zahlt sich Schulsozialarbeit aus?
Dan Goldmann: Dadurch merken wir schon früh, wenn es in einer Familie nicht so gut läuft, und können direkt Hilfe anbieten. Damit helfen wir den Familien, sparen letztlich aber auch Geld. Indem wir zum Beispiel verhindern, dass ein Kind im Extremfall außerhäuslich untergebracht werden muss. Aber in erster Linie geht es darum, was wir dem Kind damit ersparen. Unser Auftrag ist das Kindeswohl. Unser Ziel ist es, junge Menschen auf dem Weg in die Selbstständigkeit zu unterstützen. Dahinter steckt vor allem ein präventiver Gedanke. Wir wollen Kinder und Jugendliche stärken, damit sie nach der Schule finanziell auf eigenen Beinen stehen. Der Hintergedanke ist auch, materielle Selbstständigkeit zu fördern.
Welche Tipps haben Sie noch?
Dan Goldmann: Wir sehen unsere Aufgabe als so wichtig an, dass wir sie aus unserem Amt für Soziale Arbeit selbst organisieren. Eigentlich gilt in Kommunen das Subsidiaritätsprinzip, sprich: Die Aufgaben sollen an Träger vergeben werden. Aber wir behalten diese hoheitliche Aufgabe lieber selber in der Hand. Wir konnten somit einheitliche Standards für die Schulsozialarbeit entwickeln und können diese immer sehr schnell den aktuellen Begebenheiten anpassen. Wir sind direkt in den Schulen verankert, überall mit den gleichen Ressourcen. Die Fachkräfte haben in der Regel unbefristete Arbeitsverträge, sodass eine Kontinuität in der Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern gewährleistet wird.
Dritter Schritt im Wiesbadener 3-Stufenmodell ist die Einzelfallhilfe. Dabei setzt sich die Sozialarbeiterin mit einzelnen Schülerinnen und Schülern zusammen, vermittelt bei Bedarf weitere Unterstützungsangebote der Jugendhilfe. Generell gilt: Das Büro der Schulsozialarbeit im Schulgebäude steht allen offen. Es gibt ein Sofa mit bunten Kissen, auf dem Tisch stehen Kekse und Getränke bereit. Die Jugendlichen können jederzeit anklopfen, wenn sie kleine oder große Probleme plagen.
Ab der siebten Klasse wird die Berufsorientierung immer wichtiger. „Früher sahen sich Schulen vor allem für den Abschluss zuständig“, sagt Dan Goldmann. „Kaum jemand wollte wissen, was danach passiert.“ Das sei heute anders. Die Berufsorientierung sei inzwischen im Schulgesetz verankert. Und die Landesregierung fördert mit einer hessenweiten Strategie die Optimierung der lokalen Vermittlungsarbeit im Übergang von der Schule in den Beruf, kurz OLOV.
Dabei spielt die Schulsozialarbeit eine wichtige Rolle. Die Fachkräfte helfen den Jugendlichen, ihre Stärken herauszufinden und Bewerbungen zu schreiben. Und falls etwas nicht klappt, hätten sie auch direkt einen Plan B parat, berichtet Sozialarbeiterin Motyka. „Unser Ziel ist es, dass kein Schüler ohne Abschluss die Schule verlässt.“ Das gelingt nicht immer.
Aber die Fachkräfte sorgen dafür, dass niemand „unversorgt“ dasteht. Die Schulsozialarbeit ist eng vernetzt mit Arbeitsagentur und Jobcenter. Goldmann: „Wir bemühen uns, dass keiner verloren geht.“
Autorin: Kathrin Hedtke, freie Journalistin
In erster Linie richtet sich die Schulsozialarbeit an Kinder aus benachteiligten Elternhäusern. Ziel ist es, soziale Nachteile zu kompensieren. Und Prävention zu stärken. Deshalb konzentriert sich die Schulsozialarbeit auf 16 Schulen in Wiesbaden, in denen viele Kinder aus bildungsfernen Familien vermutet werden. Das sind Haupt- und Realschulen, Integrierte Gesamtschulen, Förderschulen und Berufsschulen. Hinzu kommen 16 Grundschulen in besonders benachteiligten Stadtteilen. Gymnasien gehören nicht dazu.
Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind bei der Kommune angestellt, in der Regel mit unbefristeten Stellen. „Obwohl wir aus dem Amt für Soziale Arbeit kommen, gehören wir ganz selbstverständlich zur Schule dazu“, betont Motyka. Die Schulsozialarbeit baut auf einem 3-Stufenmodell auf.
Dazu gehört im ersten Schritt die Klassenbetreuung. Zusätzlich zu ihrer Stunde in der Klasse hat die 40-Jährige jede Woche einen festen Termin mit der Klassenlehrerin. Da besprechen sie gemeinsam: Wie ist die Stimmung in der Klasse? Wer braucht spezielle Unterstützung?
Klassenlehrerin Kerstin Brinkmann sagt: „Das ist eine große Erleichterung.“ Sie erinnert sich an ihre vorherige Beschäftigung an einer anderen Schule. Dort war ein einziger Sozialarbeiter für die gesamte Mittelstufe zuständig. Er sei nur Ansprechpartner für die Schülerinnen und Schüler mit ganz besonderem Unterstützungsbedarf gewesen, berichtet die Lehrerin, eine enge Zusammenarbeit mit den Klassen habe es nicht gegeben. Umso glücklicher ist sie, dass es an der Wilhelm-Heinrich-von-Riehl-Schule anders ist. Sobald im Unterricht etwas passiert, schreibt sie der Schulsozialarbeiterin sofort eine Nachricht. „Oft hat sie noch mal einen anderen Blick auf die Schüler – und andere Ideen in petto.“
Im zweiten Schritt setzt das 3-Stufenmodell auf gezielte Gruppenangebote. In Absprache mit der Klassenlehrerin sucht die Sozialarbeiterin einige Kin-der heraus, denen ihrer Meinung nach zusätzliche Förderung guttun würde. Gemeinsam kochen sie Lasagne oder backen Waffeln, gehen klettern und Fahrrad fahren. In den Sommerferien reisen vier Fachkräfte mit mehreren Kindern eine Woche lang an die Nordsee. Für ein Mädchen sei es der erste Urlaub überhaupt gewesen, berichtet Motyka.