Wie sieht der Alltag in der Stahlproduktion aus, und welche Anforderungen müssen Auszubildende erfüllen? Der Lehrer Konrad Sens tauschte die Schultafel mit dem Schutzhelm und absolvierte ein Lehrerbetriebspraktikum in einem Hamburger Stahlwerk.
Ferngesteuerte Behälter fliegen wie Ufos über gigantischen Anlagen. Die Leute erinnern in ihrer speziellen stahlwerkstauglichen Schutzkleidung an außerirdische Lebewesen. Sirenen, ein gewaltiger Schlag lässt alles erzittern. Eine Feuersäule wächst empor und erleuchtet die gesamte Halle.
Was wie eine Szene aus dem Science-Fiction- Film wirkt, ist Alltag im Stahlwerk ArcelorMittal. Wenn im Lichtbogenofen 140 Tonnen Schrott bei zirka 1.550 Grad schmelzen, geht Besuchern das Geräusch der Starkstromelektroden durch Mark und Bein. Konrad Sens erlebte das zum ersten Mal vor drei Jahren, als er sein Lehrerbetriebspraktikum in der Firma absolvierte. „Ich wollte wissen, was Auszubildende erwartet.“ Das Praktikum war Teil des Hamburger Projekts „Innenansichten“ (siehe Infokasten).
Der 34-Jährige legte eine Woche lang die Arbeitskluft an. Um möglichst viele Einblicke zu bekommen, begleitete er jeden Tag einen anderen Auszubildenden im Betrieb. Er goss Stahlknüppel, wechselte den Riemen eines Elektromotors, half einem künftigen Elektriker, arbeitete in der Lehrwerkstatt.
Das Kontrastprogramm zur Schule gefiel dem Pädagogen: „Ich habe viel gelernt, was ich meinen Schülerinnen und Schülern bei der Vorbereitung auf das Arbeitsleben weitergeben werde. Das kann und sollte jede Lehrkraft machen, finde ich.“ Das Betriebspraktikum im Stahlwerk wird von der Hamburger Schulbehörde übrigens in vollem Umfang als Fortbildung anerkannt.
Den „guten Draht“ zu dem Unternehmen nutzt der Mathelehrer auch gezielt für die Berufsorientierung. Die ist an der Stadtteilschule Stübenhofer Weg eine wichtige Aufgabe: Seine Schülerinnen und Schüler tun sich im herkömmlichen Schulsystem schwer. In speziellen Fokusklassen bereitet Sens sie auf die Berufswelt vor, dazu gehören auch Praktika in der Wirtschaft.
Auch im Kollegium erkennen viele den Mehrwert der Erfahrungen und Kontakte, die durch das Unternehmenspraktikum entstanden sind. „Mein Jahrgangsteam hat mich immer unterstützt“, sagt Sens. Und der Zeitraum des Praktikums wurde mit der Schulleitung so abgestimmt, dass es in Zeiten mit wenig oder keinem Regelunterricht (Projektwoche, Schülerpraktika) stattfand. Auf diese Weise fällt der Anteil an Vertretungsunterricht gering aus.
Einmal jährlich kehrt der Pädagoge zurück ins Stahlwerk. Mit dabei sind dann Jugendliche aus seinen Klassen. Zuvor werden die Schülerinnen und Schüler in der Schule und auch von der Ausbildungsleiterin Heidi Warnecke über Regeln und Gefährdungen im Stahlwerk aufgeklärt. Gemeinsam erleben sie für ein paar Stunden, wie sich der betriebliche Alltag in persönlicher Schutzausrüstung anfühlt. Idee: Wer den Lärm, die Hitze und den Schmutz, aber auch die „Action“ dieses besonderen Arbeitsplatzes live erlebt, kann besser entscheiden, ob er hier eine Berufsausbildung machen möchte.
Weiteres Lernziel: Die Jugendlichen erfahren, dass auch in der archaisch anmutenden Stahlproduktion Tugenden wie Sozialkompetenz, Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit und Regelbewusstsein eine große Rolle spielen – schon aus Gründen der Sicherheit.
Beim Rundgang kommt das Gespräch auch auf einstige Schüler, die sich als Auszubildende bewähren. Die Mitarbeit zwischen Schmelze und Abstich lässt Persönlichkeiten reifen: „Manche machen in einem Jahr einen großen Sprung“, berichtet die Ausbildungsleiterin.
Mit dem Praktikum ist eine gute Kooperation zwischen Stadtteilschule und örtlicher Wirtschaft gewachsen. Beide profitieren: Die Schule für die Berufsorientierung, der Betrieb bei der Suche nach potenziellen Arbeitskräften von morgen. Auszubildende zu rekrutieren ist im Zeitalter des Fachkräftemangels auch für das Stahlwerk eine Herausforderung, erzählt Warnecke.
Die Schule eine Zeit lang hinter sich lassen, neue Erfahrungen machen: Das hat Konrad Sens jetzt wieder getan. Er meldete sich beim Projekt „Innenansichten“ für ein Praktikum. Sein Einsatzort war nur wenige Kilometer vom Stahlwerk entfernt – beim Flugzeugbauer Airbus.
René de Ridder, Redakteur (Universum Verlag)