Hoher Migrationsanteil und soziale Herausforderungen: Die interkulturelle und inklusive Stadtteilschule am Hafen in Hamburg setzt gezielt auf Kooperationen und Bildungspartner. Ein Besuch an der Elbe.
Vorbei an Kunstgalerien und dänischer Reederei führt der Schulweg in ein dicht bebautes Quartier. Wie ein Statement wirkt die Lage: Wir sind mittendrin und eng vernetzt mit der Hansestadt. Zwei weitere Standorte der Stadtteilschule sind in St. Pauli zu finden. Der bunte Kiez, geprägt von Einwanderung, Rotlichtmeile und sozialen Problemen, ist kein ganz einfaches Pflaster, um zu unterrichten.
Wie schwierig, das lässt sich am Hamburger Sozialindex ablesen. Das Monitoring beschreibt auf einer Skala von 1 bis 6 die soziale und kulturelle Zusammensetzung der Schülerschaft. Untersucht wurden alle Schulen der Elbestadt. Die Stadtteilschule bekam die Kennziffer 1. Das bedeutet „sehr schwierige soziale Rahmenbedingungen“, wie im Bericht der Schulbehörde zu lesen ist.
Welche Konzepte hat die Schule für den urbanen „Schmelztiegel“ der Milieus, Sprachen und Kulturen? Es gibt nicht das eine Patentrezept. Aber eine Strategie sind Bildungspartner und Kooperationen. „Wir können die Aufgaben nicht allein stemmen, wir brauchen Vernetzung“, sagt Schulleiterin Birgit Singh-Heinike. Auch im Leitbild der Schule wird außerschulische Kooperation großgeschrieben. Wie das praktisch in die Tat umgesetzt wird, zeigt ein Besuch in der Klasse 10b.
Dort hat gerade der bilinguale Unterricht begonnen. Thema: NS-Zeit und totaler Krieg. Die Zehntklässler analysieren gemeinsam eine Karikatur zum Hitler- Stalin-Pakt. Yıldırım Savaşı heißt Blitzkrieg, Kızılordu heißt Rote Armee. Das Gespräch findet auf Deutsch und Türkisch statt, Begriff e stehen übersetzt auf dem Arbeitsblatt. Einer sagt: „Ich weiß nicht genau, was Gürkan gerade gesagt hat.“ Trotzdem liefert der Schüler prompt die richtige Antwort auf die Frage, die Lehrerin Bilge Yörenc gestellt hat.
René de Ridder, Redakteur (Universum Verlag)
Ein Auftrag der Schule ist es, „Türöffner“ zu sein. Mit Bildungsangeboten Zugänge zu gesellschaftlichen Bereichen zu ermöglichen, die nicht allen jungen Menschen off en stehen. „Dafür benötigen wir viele Partner“, ist Schulleiterin Birgit Singh-Heinike überzeugt.
Und es braucht Lehrkräfte mit Lust auf Netzwerkarbeit. So wie Funda Erler. Die Pädagogin hat einen Termin mit dem Recruiting der Polizei Hamburg. Mit den Beamten soll eine mögliche Zusammenarbeit ausgelotet werden. Erler, zuständig für Berufs- und Studienorientierung, ist oft in den Stadtvierteln unterwegs, um Partnerbetriebe für Kooperationen zu finden: „Ich gehe gerne raus.“
Mit ihrer beruflichen Biografie ist die Oberstudienrätin prädestiniert für diese Aufgabe. Früher arbeitete sie als Redakteurin bei der Nachrichtenagentur dpa. Dann hängte sie den Journalistenjob an den Nagel und wurde stattdessen Lehrerin. „Ich mag es, jungen Menschen zu helfen.“ Ihre Erfahrungen helfen, Kontakte und Verbindungen in die Hamburger Stadtgesellschaft hinein zu pflegen.
Die Geschichtslehrerin betreut auch die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Schule. Sich positiv in der Öffentlichkeit zu platzieren, ist in Zeiten hoher medialer Selbstdarstellung wichtig. „Pressearbeit kann Kooperationen beflügeln“, sagt die Pädagogin.
Eine neue Rolle finden: Am Spielbudenplatz an der Reeperbahn ist das das ganz wörtlich zu nehmen. Im St. Pauli Theater, dem ältesten Privattheaters Hamburgs, singen sich junge Darsteller für die Proben warm. Gemeinsam mit Regisseurin Dania Hohmann studieren 22 Schülerinnen und Schüler eine Version von „Don Quijote“ ein.
Bei dem Tanz-Theater-Musikprojekt wird nach den strengen Regeln der Profi s gearbeitet. Auf der Bühne können Jugendliche Stärken und Selbstbewusstsein entwickeln. Grundlage ist eine langjährige Partnerschaft: Seit 2008 kooperieren das Theater und der Schulstandort St. Pauli.
Die Stadtteilschule schreibt auf ihrer Webseite: Wir sind, wie der Hamburger Hafen, ein Tor zur Welt. Der Eindruck des Besuchers: Die Schulpforten an der Reeperbahn sind weit geöffnet, um neue Horizonte zu entdecken.
Die Pädagogin jongliert souverän mit den Sprachen, und es ist erstaunlich, wie gut das zweisprachige Lernen klappt. Sie unterrichtet mit Ümit Eryilmaz, auch der Konsulatslehrer aus Istanbul spricht beide Sprachen fließend. Zum Konzept des Gesellschaftskunde-Fachs zählt, dass deutsche und türkische Historie beleuchtet wird: „Wie verhielt sich die Türkei zu den Achsenmächten?“, fragt Eryilmaz in die Runde.
Das bilinguale Lernkonzept fördert nicht nur Sprachkompetenzen. Es hat integrative Funktion: „Die Sprache aus deiner Familie ist so wichtig, dass wir sie als Bildungssprache in der Schule einsetzen. Diese Wertschätzung ist wichtig“, erklärt Yörenc die pädagogische Zielsetzung.
In einer Schülerschaft mit hohem Migrationsanteil werden so Brücken gebaut zu Biografien, Identitäten und kulturellen Mentalitäten. Beim mehrsprachigen Unterricht ist die Stadtteilschule in der Hansestadt Vorreiter.
Und es mobilisiert Schülerinnen und Schüler, wenn die Schule die Fenster zur Welt öffnet. Mancher Jugendliche geht während der Oberstufe zum Praktikum ins Ausland, arbeitet am Filmset oder in einem türkischen Hospital mit. Das bilinguale Prinzip baut auch unter Eltern Distanzen ab. „Bei Elternabenden haben wir eine Beteiligung von 90 Prozent“, sagt die Gesellschaftskunde-Lehrerin.
Ohne außerschulische Kooperation wäre das bilinguale Lehrkräfte-Tandem nicht möglich. Grundlage ist eine Vereinbarung mit der Türkei, in deren Rahmen Lehrkräfte wie Ümit Eryilmaz für fünf Jahre vom Bosporus zur Elbe gesendet werden. Auch mit Portugal besteht eine Bildungskooperation. Schülerinnen und Schüler können das Abitur in beiden Sprachen ablegen.
Die vielen Bildungspartnerschaften der Stadteilschule verfolgen einen weiteren Zweck. Ein Stück mehr Chancengerechtigkeit für Jugendliche mit ungleichen Bildungsvoraussetzungen. Ob Segeltouren mit der Stiftung „Kinderjahre“, Kooperationen mit Kunsthalle, Oper und Jugendmusikschule, Diskussionen mit Politikern, die Catering-Schülerfirma: All das sind Möglichkeiten, sich in neuen Rollen auszuprobieren.