Eine Schere zeigt mit der Spitze auf einen Luftballon, kurz davor, zuzustechen.

Foto: Dominik Buchardt

Gemeinsam gegen Gewalt

  • Tabuthema: Übergriffe auf Lehrkräfte
  • In Schulkollegien ist gemeinsames Handeln wichtig
  • Grenzen sollten sicht- und spürbar gesetzt werden


Erst schmeißt der Schüler mit Papierkügelchen aufs Lehrerpult. Später macht er sich lautstark über den Lehrer lustig, beschimpft ihn. Lange versucht der Kollege, die Provokationen stillschweigend zu ignorieren, doch irgendwann verliert er die Nerven. Der Junge filmt die Szene mit seinem Handy und verbreitet das Video im Netz.


„Am Anfang steckt da vielleicht gar keine große Boshaftigkeit dahinter“, sagt Kriminalhauptkommissar Dietmar Schirrmacher, Krisen- und Präventionsmanager aus Recklinghausen (NRW). „Es entwickelt sich eine Dynamik.“ Besser wäre gewesen, den Jungen gleich am Anfang freundlich, aber bestimmt in die Grenzen zu weisen.


Schülerinnen und Schüler wollten von ihren Klassenkameraden als cool angesehen werden und ihre Kräfte messen. Ließen sich Lehrkräfte zum Spielball machen, könne die Situation leicht eskalieren, so Schirrmacher. Es ist ein Tabuthema: Immer öfter werden Lehrerinnen und Lehrer zum Opfer von Beleidigungen, Drohungen, Cyberattacken und Angriff en. Sie werden gebissen, geboxt, gewürgt, getreten und gedemütigt.


Laut einer aktuellen Studie des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) kommt es an rund der Hälfte aller Schulen zu psychischer Gewalt gegen Lehrkräfte. Bei etwa einem Viertel gibt es körperliche Übergriffe. Als Krisenmanager ist Schirrmacher an Schulen in Recklinghausen im Einsatz. Er berichtet, dass bereits Grundschulen betroffen seien. Beispiel: Eine Lehrerin geht auf dem Pausenhof bei einer Schlägerei dazwischen. Dabei tritt ihr ein Viertklässler mit solcher Wucht zwischen die Beine, dass die Frau zwei Wochen ins Krankenhaus muss. „Gewalt gehört an Schulen inzwischen zum Alltag“, sagt der Polizist. Allerdings: An Gymnasien gebe es mehr Cybermobbing und eher kaum Körperverletzungen.

Furcht vor Gesichtsverlust


Viele Betroffenen würden am liebsten mit niemandem darüber sprechen. Der Krisenmanager berichtet von einem „großen Dunkelfeld“. Das zeigt auch unsere erfolglose Suche nach Lehrkräften, die von solchen Vorfällen berichten. „Sie fürchten sich vor Gesichtsverlust“, so Schirrmacher. Deshalb sei wichtig, dass die Schulen das Thema kollektiv angingen und sich professionelle Hilfe holten. Dadurch entstehe ein „Wir- Gefühl“, sagt Schirrmacher. Das sei auch ein wichtiges Signal an die Schülerinnen und Schüler: Sie legten sich nicht mehr mit einer einzelnen Lehrkraft an, sondern mit dem ganzen Kollegium.

Der Kommissar ist überzeugt, dass sich mit relativ einfachen Mitteln eine große Wirkung erzielen lässt. Mit seinem Team bietet er an Schulen ein „Berufsspezifisches Interventions- und Sicherheitstraining“ an, kurz BIUS. Zur Vorbereitung sollen sich die Lehrkräfte zunächst einen Überblick verschaffen und alle Vorfälle genau dokumentieren. Danach stellt sich für alle die Frage: „Wie gehen wir als Schule damit um?“ Dabei wird das Kollegium auch über rechtliche Möglichkeiten aufgeklärt. „Das gibt Sicherheit“, berichtet Schirrmacher. Oft herrsche Unklarheit, welche Möglichkeiten sie hätten. So lernen die Lehrkräfte zum Beispiel, dass sie aus Notwehr sehr wohl einen Schüler anfassen dürfen. Und sie lernen ganz konkret, wie sie sich in einer echten Gewaltsituation zur Wehr setzen. Oder was zu tun ist, wenn sie ein Jugendlicher am Arm festhält oder an der Kleidung zerrt.


Beim BIUS üben Lehrkräfte auch, selbstbewusster aufzutreten – und mit Provokationen umzugehen. Es gilt, Schülerinnen und Schüler „mit einem Lächeln“ klar in die Grenzen zu weisen. „Unglücklich ist es, gleich sauer zu reagieren.“ Doch klar ist auch: Bei anhaltender Störung des Schulfriedens durch Schülerinnen und Schüler sind beispielsweise Ordnungsmaßnahmen angesagt. Straftaten wie Körperverletzung oder Sexualdelikte müssen zur Anzeige gebracht werden. „Lehrkräfte müssen Grenzen sicht- und spürbar setzen“, betont der Polizist.

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Kathrin Hedtke, ifreie Journalistin

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