Talisha und Emily ist es mulmig zumute. Die Teenager sind mit ihrer Klasse zu Besuch im Evangelischen Krankenhaus Oldenburg. Sie starten zum Rundgang vor der Unfallstation im Rettungswagen. Grelles Licht empfängt sie, an der Wand ein Defibrillator und eine leeren Tragebahre. „Verkehrsopfer werden oft zwischen Autoteile eingeklemmt“, erzählt der Notfallsanitäter. Dann schildert er – bewusst anschaulich – mögliche Verletzungen. Das gehört zum Konzept.
Der Besuch der Zehntklässler in der Unfallklinik ist Kern des Präventionsprojekts P.A.R.T.Y. Dabei werden Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren mit den Folgen von riskantem Verhalten konfrontiert. Die Abkürzung steht für „Prevent Alkohol and Risk Related Trauma in Youth“. Frei übersetzt: Das Programm will verhindern, dass Jugendliche sich durch Alkohol und risikobereites Verhalten schwer verletzen. Die Idee entwickelte bereits 1986 eine Krankenschwester in Kanada. Im Zentrum steht bis heute der Besuch in einem Krankenhaus. Jungen Menschen wird am Ort des Geschehens – im Krankenhaus – gezeigt, wie die Versorgung schwerverletzter Personen abläuft. Sie sollen erleben, was es bedeutet, von jetzt auf gleich aus dem Leben gerissen zu werden. Inzwischen wird das Präventionsprogramm in fünf Ländern angeboten – auch in Deutschland.
Die Schulklasse in Oldenburg folgt dem Weg, den ein polytraumatisierter Patient durch die Klinik durchläuft. Dabei erfahren sie, welche Auswirkungen verschiedene Verletzungen haben. Jetzt betreten die Zehntklässler den Schock-Raum. Hier findet die Erstversorgung schwerverletzter Unfallopfer statt. „Im Notfall zählt jede Sekunde“, lernen Talisha und Emily. Der 16-jährige Luca wagt sich probeweise auf die Liege. Kalt gleitet das Ultraschallgerät über seine Haut. Leber, Milz und Lunge werden auf einem Bildschirm sichtbar. „Wenn die Leber bei einem Unfall verletzt wurde, sehen wir das hier sofort“, erklärt die Ärztin.
Die Ärztin ist nur eine Expertin, mit der die Jugendlichen an diesem Tag sprechen: Krankenschwestern und -pfleger, Reha-Spezialisten und Präventionsbeauftragte der Verkehrspolizei erzählen aus ihrer Praxis. Und die ist oft dramatisch. Ziel ist es, die Jugendlichen nachdenklich zu machen. Ihnen soll bewusst werden, welche Konsequenzen Alkoholmissbrauch, Selbstüberschätzung und Risikobereitschaft für ihr Leben haben können. Sie sollen Gefährdungen besser erkennen und ernst nehmen.
Weiter geht es zur Intensivstation. In den Zimmern liegen die Patienten. Maschinen halten sie am Leben: Infusionsschläuche, piepende Geräte, eine pumpende Lungenmaschine. Durch den Flur eilt ein Pfleger. Eine Ärztin spricht Talisha und Emily an: „Wenn Ihr Drogen nehmt, das Gefühl habt zu fliegen und dann von einem Gerüstbau springt, ist das keine gute Idee.“
Etwas später, in einem Krankenzimmer, erzählt ein jugendlicher Patient leise von seinem Unfall. „Ich bin betrunken Fahrrad gefahren und bei Rot über die Ampel. Da hat mich ein Auto erwischt.“ Jetzt liegt er mit gebrochenem Bein im Krankenhaus. Die Begegnung mit Patienten ist fester Bestandteil des Programms.
In der Physiotherapie bekommen die Teenager dann eine Ahnung, wie lange es dauert, nach einem schweren Bruch wieder zum alten Leben zurückzukehren. Auch hier sind die Teenager beeindruckt, haben viele Fragen an die Expertinnen und Experten im Krankenhaus. An einem speziellen Konzept zur Nachbereitung des Besuchs in der Unfallklinik arbeite das P.A.R.T.Y.-Team noch. Derzeit liegt es an den Lehrkräften, ob und wie sie das Erlebte in ihrem Unterricht noch einmal nachbereiten.
Der letzte Punkt an diesem Tag im Krankenhaus in Oldenburg: Eine ehemalige Patientin berichtet von ihrem Verkehrsunfall. Oberschenkel, Unterarm und Schlüsselbein waren gebrochen. Dazu die Diagnose Leber- und Milzriss. Die Brüche mussten über Monate mit Nägeln, Platten und Stangen stabilisiert werden. Zuerst konnte sie sich nur im Rollstuhl fortbewegen, nur schrittweise lernte sie wieder zu laufen. Immer wieder musste sie operiert werden. „Jetzt bin ich wieder metallfrei“, sagt sie. In der Klasse ist es schon lange still geworden.
Jan-Peter Schulz ist Redakteur im Referat Redaktion und Medien der DGUV, Berlin. Gesa Fritz ist Redakteurin im Universum Verlag, Wiesbaden.