Seit Jahren schon zeigen Unfallstatistiken eine deutliche Zunahme von Fahrradunfällen bei den Zehn- bis 15-Jährigen. Ein Zusammenhang mit dem Einsetzen der Pubertät liegt nahe: Die Risikobereitschaft steigt, ebenso der Einfluss der Peergroup; die Gefühle fahren Achterbahn. Gleichzeitig kommt es zu umfangreichen „Umbaumaßnahmen“ im Gehirn. Die Veränderungen sind so komplex, dass die Jugendlichen ihr Verhalten in dieser Zeit nicht immer angemessen steuern können – auch nicht im Straßenverkehr. In der Theorie mögen sie alle Verkehrsregeln beherrschen und sich für gute Fahrradfahrer halten, in der Praxis scheitern sie – entwicklungsbedingt – an sich selbst.
Für vorausschauendes Denken und die Emotionsregulation ist das exekutive System des menschlichen Gehirns verantwortlich. Das jedoch ist erst mit etwa 25 Jahren voll entwickelt, es kann also der höheren Risikofreude der Pubertierenden wenig entgegensetzen. Eine Forschergruppe vom ZNL Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen der Universität Ulm konnte nun einen klaren Zusammenhang zwischen Defiziten im exekutiven System und der Unfallhäufigkeit nachweisen. Schulische Präventionsprogramme, die dem Rechnung tragen, gab es bislang nicht; spielt die Verkehrserziehung in der Sekundarstufe doch ohnehin nur eine untergeordnete Rolle.
Das exekutive System des Gehirns ist für die Selbstregulation wichtig:
Stefanie Richter, Redakteurin (Universum Verlag)
„Unsere Idee war es, ein Präventionsprogramm zu entwickeln, das nicht nur die bekannten relevanten Faktoren berücksichtigt, sondern auch was die Zielgruppe braucht. Dazu haben wir Sport- und Sozialpädagogen mit an den Tisch geholt“, erklärt ZNL-Forscherin Anika Fäsche. So entstand das Programm „YOLO – Teste deine Grenzen“. Es soll die Jugendlichen in ihren Selbststeuerungskompetenzen stärken und damit die Unfallhäufigkeit senken.
Das Training bietet den Teilnehmenden vielfältige Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten und Grenzen zu testen: kognitiv, motorisch und sozial-emotional. Dabei kommen Elemente aus verschiedenen Sportrichtungen und der Erlebnispädagogik, jedoch ausdrücklich kein Radfahrtraining zum Einsatz. Die Jugendlichen üben sich in der Sportart Parkour, sie lernen Übungen aus der Kampfkunst kennen – hierbei lernen die Jugendlichen, durchdachte Entscheidungen zu treffen, was die Selbststeuerung fördert. Um Verhalten und Emotionen situativ besser einschätzen und anpassen zu können, wird den Jugendlichen ein fundierter Wissenshintergrund über alterstypische Veränderungen im Gehirn und Verhaltensweisen vermittelt. In Rollenspielen werden die Problemlöse- und Konfliktfähigkeiten trainiert. Wichtig sind auch die Phasen der Reflexion, die in das Programm integriert sind. Sie stärken die emotionale Selbstkontrolle.
An fünf Schulen wurde „YOLO“ im Rahmen von Arbeitsgemeinschaften während eines Schulhalbjahres in den Jahrgängen 6 und 7 durchgeführt. Die Ergebnisse der anschließenden Evaluation zeigen: Das Programm traf auf hohe Akzeptanz und wurde insgesamt sehr positiv bewertet. Auch gingen in den AG-Gruppen im Vergleich zur Kontrollgruppe die Unfallzahlen signifikant herunter, besonders im Schul- und Freizeitsport. Forscherin Anika Fäsche ist zuversichtlich: „Wir sehen gute Chancen, das Programm an den Schulen zu etablieren.“