Aufgrund psychischer Belastungen beenden viele Lehrkräfte den Schuldienst schon vor dem Erreichen ihrer beruflichen Altersgrenze. Das Projekt startklar der Universitätsmedizin Mainz soll Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern helfen, Stress zu reduzieren und die eigenen Widerstandskräfte zu stärken.
Frau Eskic, Stress im Berufsleben ist allgegenwärtig und zu einer Art Modebegriff geworden. Woran liegt das?
Wenn wir sagen, dass wir im Stress sind, zeigen wir: Wir haben viel um die Ohren, sind beschäftigt. Stress gilt oft als eine Art Statussymbol. Aber: Im Volksmund und in den Medien ist Stress dennoch auch ein negativer Begriff, den viele Menschen vor allem mit einem schlechten Gefühl verbinden. Das ist in der Forschung nicht unbedingt so.
Was bedeutet Stress aus wissenschaftlicher Sicht?
Der Begriff ist in der Forschung nicht zwingend negativ behaftet. Stress ist grundsätzlich eine Reaktion des Körpers auf eine Situation, die in einer Weise herausfordernd ist: die Grundlage des Lernens. Wenn wir merken, dass wir mit bisherigen Strategien in einer neuen Situation nicht zurechtkommen, reagiert unser Körper mit Stress. Wir sind gefordert und bereit, Veränderungen einzugehen.
Ein Beispiel: Ein Höhlenmensch steht vor einem Tiger. Das Tier bedeutet Gefahr und der Körper des Menschen setzt eine Stressreaktion in Gang. Das ist in diesem Fall gut; der Körper setzt Ressourcen frei für den Flucht- und Kampfreflex. Sie sollen helfen, die Situation zu bewältigen.
Im Projekt startklar beziehen Sie sich vor allem auf das Stress-modell des Psychologen Richard Lazarus, eines der bekanntesten Modelle der Gesundheitspsychologie bzw. psychologischen Stressforschung. Warum?
Weil es den Unterschied zwischen positivem und negativem Stress gut erklärt. Die Frage ist immer: Wie bewerte ich eine stressige Situation? Nehme ich sie als Bedrohung oder als Herausforderung wahr? Wenn ich denke: „Das ist etwas, das ich bewältigen kann“, dann ist der Stress positiv und hilft mir, eine so genannte „High- Performance“ zu zeigen. Wenn ich aber denke: „Die Situation ist schwierig, mir fehlen Strategien, um mit ihr umzugehen.“ Dann ist die Situation eine Bedrohung und löst negativen Stress aus.
Wie wirkt sich negativer Stress auf die Gesundheit aus?
Wenn Stress über einen längeren Zeitraum, also Tage, Wochen oder Monate anhält und wir ihn nicht reduzieren können, zeigt die Forschungslage, dass gesundheitliche Schäden entstehen können. Manche Menschen leiden unter Erschöpfung, Müdigkeit oder einer höheren Anfälligkeit für Infekte. Andere bekommen Probleme mit dem Verdauungssystem oder haben Schmerzen. Es gibt aber auch psychische Konsequenzen, wie Schlaf- und Konzentrationsprobleme. Unser Gehirn ist plötzlich nicht mehr in der Lage, Informationen gut abzuspeichern. Im Extremfall endet Stress in einer depressiven Störung.
Mit dem Projekt richten Sie sich an Lehramtsanwärterinnen und -anwärter. Unter welchen Belastungen leiden diese im Alltag besonders?
Erstaunlich bei unserer Befragung war, dass offenbar häufig strukturelle Aspekte Stress auslösen. Genannt wurden Zeitmangel, viel Fahrzeit zwischen Seminaren und den Schulen. Hinzu kommen Erwartungshaltungen etwa des Seminarleiters, der Schülerinnen und Schüler, der Eltern und des Kollegiums. Die angehenden Lehrkräfte kommen direkt vom Studium und müssen sich erst einmal im zeitlich eng getakteten, komplexen Berufsleben zurechtfinden. Sie müssen ihre Freizeit neu gestalten oder den Wohnort wechseln. Der Berufsstart ist mit vielen Belastungen verbunden.
Dazu kommt ein Gefühl der Unsicherheit. Neben den Erwartungen von außen kämpfen die angehenden Lehrkräfte vor allem auch mit den Erwartungen und Ansprüchen an sich selbst. Sie wollen guten Unterricht präsentieren, beliebt sein, allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden und verfolgen dabei oft sehr hohe Ideale. Dies zeigt die Wichtigkeit der eigenen kognitiven Bewertungen bei der Entstehung von Stress und stellt den Ansatzpunkt des Projekts startklar dar.
Wie lassen sich Stressverstärker positiv beeinflussen?
Im Training arbeiten wir mit dem so genannten „Weg zur schönen Aussicht“. Die erste Stufe ist das Wahrnehmen. Viele Menschen merken zu spät, dass sie sich gerade in Stress befinden. Die zweite Stufe ist das Annehmen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollen entscheiden, mit was sie hadern wollen oder was sie viel-leicht auch annehmen können. Die dritte Stufe nennen wir „Hinsehen“. Hier geht es darum, sich von festgefahrenen Gedanken und Einstellungsmustern zu lösen. Distanz zu schaffen zwischen mir und meinem Erleben.
Wie hängen Achtsamkeit und Stress zusammen?
Oft entsteht Stress dadurch, dass wir Verhaltensweisen anwenden, die wir schon immer angewendet haben. Die aber nicht sonderlich hilfreich sind. Wir nennen das den Autopilotenmodus. Durch Achtsamkeit kann ich das schneller bemerken und eine Distanz zwischen mir und der Situation schaffen. Mit Achtsamkeit lernt man also, aus den gewohnten Bahnen und aus der Stress-Spirale auszusteigen und eigenen Handlungsspielraum erweitern.
Welche Beispielübungen für Achtsamkeit gibt es?
Mein Lieblingsbeispiel ist die Übung „Ei aufstellen“. Viele finden das amüsant und sagen: „Das geht nicht“. Es geht aber doch. Man kann Eier dazu bringen, auf der breiten oder sogar auf der spitzen Seite zu stehen – ganz ohne Hilfsmittel auf einer Tischplatte. Dabei beobachten wir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Manche schweifen schnell mit den Gedanken ab. Sie fragen sich: „Warum steht das Ei meines Kollegen schon, meins aber nicht?“ Da rutscht man schnell in die gedankliche Bewertung rein und fühlt sich schlecht. An diesem Beispiel können wir den Zustand der Achtsamkeit gut erklären. Eine andere Übung ist das „Hören“. Wir achten darauf, was wir gerade hören können. Am Anfang reichen drei bis vier Minuten. Wenn wir etwa das Fenster öffnen und draußen ein Rasenmäher angeworfen wird, wird das Knattern losgehen. Schnell bewerten wir: „Ach Mensch, jetzt wollte ich doch eine Achtsamkeitsübung machen. Jetzt muss der Typ dort mähen.“ Achtsamkeit würde bedeuten: „Ich nehme das an. Da ist ein Rasenmäher, den höre ich. Ich merke, dass mich das stört – aber diese Bewertung versuche ich jetzt zur Seite zu schieben und mit meiner Aufmerksamkeit bei der Übung zu bleiben.“
Es handelt sich um ein achtsamkeitsbasiertes Stresspräventions- training. Worum geht es genau?
Der erste Baustein ist das Achtsamkeitstraining. Achtsamkeit ist ursprünglich eine Meditationsform aus dem Zen-Buddhismus. Es geht darum, die eigene Aufmerksamkeit zu lenken. Man versucht, mit seinen Gedanken ganz bei sich und dem jeweiligen Moment zu sein und vorurteilsfrei an Situationen heranzugehen. Nicht an Dingen anzuhaften, die gestern oder vor fünf Minuten passiert sind. Der zweite Baustein ist Stressmanagement. Wir verwenden Strategien aus der Verhaltenstherapie. Dabei wollen wir individuelle Stressverstärker kennenlernen und mit ihnen umgehen. Drittens beschäftigen wir uns mit Zeitmanagement. Viele Lehramtsanwärter haben das Gefühl, noch kein gutes Zeit-management zu haben.
Könnte man sagen: Gut organisierte Lehrkräfte haben weniger Stress?
Gutes Zeitmanagement kann viele der äußeren Stressoren minimieren. Priorisieren hilft. Welche Aufgaben kann ich abgeben? Welche kann ich morgen machen oder vielleicht auch streichen? Ein typisches Beispiel ist die Verschönerung eines Arbeitsblattes. Ist es wirklich notwendig, dass ein noch schöneres Bild drauf ist? Oder lenkt mich nur mein eigener Anspruch? Aber es gibt auch innere Stressoren. Nämlich, wie ich auf bestimmte Situationen reagiere und welche Fähigkeiten ich mitbringe. Diese Punkte kann Zeitmanagement nicht abdecken.
Welche Rolle spielen eigene Gedanken und Bewertungen bei Stress?
Eine sehr große. An den eigenen Stressverstärkern können wir mit startklar angreifen. Ich kann in einem Training nicht die Rahmenbedingungen für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verändern. Aber die eigenen Reaktionen. Sie sind sehr individuell – situationsspezifisch, aber auch von Person zu Person unterschiedlich. Viel hängt davon ab, welche Lernerfahrungen die Leute gemacht haben, wie sie sozialisiert wurden, aber auch wie sie mit ihrer Sozialisation umgehen. Für Menschen, die etwa aus einem sehr leistungsorientierten Elternhaus kommen, ist eine Situation, in der sie befürchten zu versagen, maximaler Stress. Jemand, der gelernt hat, auch Fehler zu machen, wird die Situation möglicherweise eher als Herausforderung erleben.
Welche Rolle spielt Spontanität beim Thema Stress?
Positiver Stress kann Spontanität fördern. Nach dem Motto: „Not macht erfinderisch“. Wenn ich merke, dass ich in einer bestimmten Situation nicht weiterkomme, muss ich mich anpassen. Das ist durchaus gewünscht. Viele Lehramtsanwärterinnen und -anwärter können aber wegen der Strukturen nicht so spontan reagieren, wie sie gerne möchten. Sie haben ihrem Seminarleiter ein Konzept vorgelegt und sollen sich daran halten. Grundsätzlich kann Spontanität aber in Stresssituationen helfen.
Aktuell wird das Projekt ausgewertet. Gibt es schon Ergebnisse?
Klar ist schon jetzt: Angehende Lehrkräfte empfinden andere Formen von Stress als alteingesessene Lehrkräfte. Sie haben grundsätzlichere Ängste: Bekomme ich eine Stelle? Werde ich verbeamtet? Erfahrene Lehrerinnen und Lehrer sorgen sich eher darum, wie sie mit ihrem Kollegium auskommen, wie sie mit schwierigen Schülerinnen und Schülern umgehen oder mit schwierigen Schicksalen. Die ersten Daten des Projekts sind viel- versprechend. Das Training kommt durchweg sehr gut an und wir können hohe Teilnahmequoten an den ersten Durchläufen verzeichnen.
Welches Ziel verfolgen Sie mit startklar?
Das Ziel ist nicht, keinen Stress mehr zu erleben. Das wäre unrealistisch. Stress ist Teil unseres Alltags und wird es immer sein. Wir können aber gezielt für ein Gegengewicht sorgen. Durch eine ausgewogene Freizeitgestaltung und Achtsamkeit. Das wollen wir unseren Teilnehmern vermitteln. Wenn die Pflichten überhand nehmen, kappen viele Zeit bei der Freizeit ab. Das ist aber falsch. Schöne Momente und Entspannung brauchen wir, um unseren Akku wieder aufzufüllen und nicht in die Negativ- schleife des Stresses zu geraten.
Das Interview führte die freie Journalistin Sandra Winzer.
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Zur Person Jasmina Eskic
Jasmina Eskic ist Diplom-Psychologin, angehende psychologische Psychotherapeutin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universitätsmedizin Mainz. Sie arbeitet als Projektkoordinatorin im Projekt startklar.