Frau Koch, welche Erfahrungen haben Sie mit dem Unterrichten in Intensivklassen gemacht?
Meine Erfahrungen sind in der Tat intensiv. Das bezieht sich auf die Beziehung zu den Kindern ebenso wie auf die Vorbereitungen des Unterrichts. Der Unterricht in einer DaZ-Klasse bringt ganz andere Anforderungen als in einer Regelklasse mit sich. Als Lehr- kraft ist man oftmals die erste Ansprechperson im neuen Land, die dauerhaft mit Eltern und Kindern Kontakt hat und positiv und unbürokratisch auf Familien zugeht.
Wie meinen Sie das?
Bei vielen geflüchteten Familien wird die Schule mit Normalität und der Wiederherstellung eines geregelten Alltags verbunden. Die Kinder haben oft ein Kuschel-, Lern- und Ritualbedürfnis.
Wie wurden Sie für den Unterricht in der Intensivklasse vorbereitet?
Glücklicherweise gab es eine Weiterbildung. Ich nahm an einem Pilotprojekt teil, das eng vom Schulamt Wiesbaden bzw. von der DaZ-Fachberatung des Schulamts begleitet wurde. Dabei konnte man sich ein Jahr lang ausprobieren und Fortbildungen besuchen. Unsere Schule konnte daran teilnehmen, weil im Einzugsgebiet zwei Wiesbadener Gemeinschaftseinrichtungen liegen.
In Intensivklassen sitzen oft Schülerinnen und Schüler verschiedenen Alters mit unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen zusammen. Wie lässt sich diese Herausforderung bewältigen?
Man muss sich auf den Unterricht gut vorbereiten, flexibel sein und die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kinder relativ schnell erfassen. Mein Unterricht ist geprägt von den Ansätzen der Kompetenzorientierung und des ganzheitlichen Spracherwerbs. Wir starten mit einem gemeinsamen Thema. Danach folgen dem Leistungsniveau der Kinder entsprechende Arbeitsaufträge. Anhand des Themas lernen die Kinder neuen Wortschatz, sie produzieren schriftlich und mündlich Sprache, und es findet authentischer Grammatikunterricht statt. So kommt es, dass Kinder, die alphabetisiert werden, sich mit Phonetik und den einzelnen Buchstaben beschäftigen und Fortgeschrittene schon eine Geschichte zu dem Thema schreiben. Freies Schreiben ist ein wichtiger Bestandteil meines Unterrichts, da dies Kinder schon sehr früh können, zum Beispiel als Wortsammlung. Differenzierung und Vorentlastung sind Grundvoraussetzung für Lernerfolge aller Kinder.
Setzen Sie digitale Medien ein?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Tablet-PCs eine sehr große Hilfe bei der Differenzierung und Motivation gerade schüch-terner Kinder in Bezug auf Sprachproduktion sind. Sie bieten die Möglichkeit, dass die Kinder sich selbst oder Figuren aufnehmen, zum Beispiel Sprachaufnahmen, Bilder und Videos. Sie können sich diese immer wieder anhören und sich selbst korrigieren. Es gibt aber auch Apps, mit denen die Kinder spielerisch Vokabeln lernen oder ihren Wortschatz erweitern können. Ein Beispiel hierzu: Mit der App ,bitsboards‘ (siehe Infokasten) lassen sich zu allen Wortfeldern 31 Spiele auf verschiedenen Niveaustufen generieren. Die Kinder können diese leicht selbst erstellen und mit ihren eigenen Produkten ihren Wortschatz erweitern.
Wie schaffen Sie es, soziale Regeln zu vermitteln?
Bei mir gibt es vier Grundregeln, die als Piktogramm an der Tafel stehen: freundlicher Umgang, zuhören, pünktlich und leise sein. Diese Regeln werden mit der Regel der Woche und des Monats immer wieder ergänzt oder präzisiert und in diversen Situationen eingeübt. Das ist auch deswegen notwendig, da jederzeit neue Schülerinnen und Schüler in den Klassenverband dazukommen können. Zu ihrem Verhalten sollten Kinder sofort ein Feedback erhalten. Zum Beispiel habe ich alle Namen an der Tafel. Wer Regeln beachtet, erhält einen Smiley.
Was hat sich bewährt, um das soziale Miteinander in Intensivklassen zu fördern?
Am besten viele Methoden nutzen, bei denen die Kinder ge- meinsam lernen und sich eine soziale Ebene eröffnet – zum Beispiel Gruppenarbeit. Eine andere Möglichkeit sind Experten-kinder, die anderen Kindern helfen. Es kann hilfreich sein, wenn ein Kind einem anderen eine Lernaufgabe noch einmal auf Arabisch erklärt. Außerdem ist Zusammenarbeit mit der Schulsozialarbeit enorm wichtig.
Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, in der Schule kulturelle Normen und Werte zu vermitteln?
Sehr wichtig. Die Kinder bringen aus ihrer Heimat unterschiedliche Verhaltensmuster mit. Dass beispielsweise in Deutschland Frauen gleichberechtigt sind, muss erlernt werden. Meiner Erfahrung nach sind die Kinder in dieser Frage sehr offen und nehmen zur Kenntnis, dass das Geschlechterverhältnis zu Hause oder im Herkunftsland anders sein kann. In dieser Frage habe ich nur selten Widerstände erlebt. Es kann aber sein, dass das bei deren Eltern oder Jugendlichen der Sekundarstufe I anders aussieht.
Wie gehen sie mit Konzentrationsstörungen in der Klasse um?
Dann ist ein Phasenwechsel angesagt. Viele geflüchtete Kinder sind deutsche Unterrichtsformen und offenen Unterricht nicht gewohnt. Ihnen fällt es oft leichter, im Rahmen eines strukturierten Frontalunterrichts einen Arbeitsauftrag nach dem anderen zu erfüllen. Hier ist es meine Aufgabe, offene Unterrichtsformen einzuüben.
Wie empfehlenswert sind Entspannungsphasen?
Ich baue einmal oder zweimal pro Woche Traumreisen oder Entspannungsphasen in den Unterricht ein. Auch wenn Schüler- innen und Schüler sprachlich nicht alles verstehen, nutzen sie diese Phasen. Die Kinder lernen, dass sie in dieser Umgebung sicher sind, sie können sich anschließend besser konzentrieren. Außerdem bieten Traumreisen oder entspannende Spiele Mög-lichkeiten zur Wiederholung und Festigung des Wortschatzes sowie hervorragende Sprach- und Schreibanlässe. Eine Zeit lang habe ich jedoch ganz darauf verzichtet, weil ein Junge in solchen Phasen Probleme bekam. Er wollte nicht träumen, weil er Schlimmes erlebt hat. Damit muss man sensibel umgehen.
Ist man als Lehrkraft eine besonders wichtige Bezugsperson für geflüchtete Kinder und Jugendliche?
Ja, es ist wichtig, authentisch und absolut konsequent zu sein, sowohl positiv als auch negativ. Kinder reagieren sehr sensibel auf Lächeln, Zuspruch und Lob. Es ist schwierig, wenn ich einmal ein Verhalten lobe und ein anderes Mal nicht. Man sollte ver- suchen, die Kinder und deren Bedürfnisse wahrzunehmen und dementsprechend zu reagieren. Manchmal stehen ‚haarige‘Unterrichtssequenzen an, weil es darin auch um Kinder in Kriegsgebieten geht. Dann gibt es das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Einige möchten aber gerade das nicht. Denen muss man auch den Raum geben, sich rausziehen zu können.
Schulorganisation: Was sollte beachtet werden, wenn in einer Schule eine DaZ-Klasse neu startet?
Von großer Bedeutung ist die Zusammenarbeit mit der Schulleitung und die Elternschaft umfassend zu informieren. Unsere Elternschaft hat sogar Hilfe und Unterstützung angeboten, da sie von Anfang an umfassend über die Intensivklasse informiert wurde. Empfehlenswert ist auch, Intensivklassen komplett in den Schulalltag zu integrieren. Je stärker die ‚neuen‘ Kinder ein-gebunden werden, desto besser nimmt man übrigens auch den ‚Regelklassenkindern‘ die Angst vor dem Fremden. Außerdem hat sich gezeigt, dass ein regelmäßiger Tagesablauf im Stunden-plan für die Kinder hilfreich ist.
Was sind ihre belastendsten und schönsten Erfahrungen in der Intensivklasse?
In einigen Momenten ist man fassungslos. Neulich fragte ich: ‚Warum hört ihr nicht auf mich?‘ Die Antwort: ‚Du schlägst uns ja nicht!‘ Da ist mir aufgefallen, mit welch unterschiedlichen kulturellen Hintergründen die Kinder teils kommen. Wir haben dann einen Tag lang damit verbracht, die Gewalterfahrungen, die Kinder früher in Schulen gemacht haben, zusammenzutragen. Anschließend haben wir vermittelt, dass so etwas in Deutsch-land verboten ist. Zum Positiven: Eine ehemalige Schülerin hat sich mittlerweile gut im Regelunterricht eines Gymnasiums etabliert. Ein großer Erfolg.
Das Gespräch führte René de Ridder, Redakteur, Universum Verlag
Zur Person
Yasmine Koch unterrichtet im dritten Jahr Intensiv-klassen an der Wiesbadener Adalbert-Stifter-Schule. Sie unterrichtet die Hälfte ihres Stundendeputats in DaZ-Klassen und ist auch DaZ-Fachbereichsleiterin an der Schule.
Außerdem ist sie als Fachberaterin am Staatlichen Schulamt für den Rheingau-Taunus-Kreis und die Landeshauptstadt Wiesbaden tätig.
An der Adalbert-Stifter-Schule unterrichten 15 Lehrkräfte insgesamt 260 Schülerinnen und Schüler.
Im Einzugsbereich der Wiesbadener Grundschule liegen zwei Gemeinschaftseinrichtungen, in denen geflüchtete Familien untergebracht sind.