DGUV pluspunkt sprach mit den Neuropsychologen Rainer Lasogga und Rainer John von der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Nachsorge erworbener Hirnschäden bei Kindern und Jugendlichen.
Zu Beginn ein Blick auf die Statistik. Wie viele Kinder und Jugendliche erleiden in Deutschland ein Schädel-Hirn-Trauma?
John: Die BAG Nachsorge geht davon aus, dass bundesweit jährlich 200.000 Menschen ein Schädel-Hirn-Trauma erleiden. Davon sind 70.000 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren. Unsere Schätzung bezieht sich auf die aktuellste epidemiologischer Studie, die derzeit zum Thema vorliegt. Außerdem ist das Risiko eines Schädel-Hirn-Traumas in bestimmten Altersstufen besonders hoch. Die erste Häufung tritt im Lebensalter von bis zu zwei Jahren auf. Ursache sind oft Stürze, weil das Körpergewicht in dem Alter noch ungünstig verteilt ist. Die zweite Häufung betrifft Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Risikofaktoren sind Freizeitaktivitäten, Risikosportarten und Mobilität.
In der Altersgruppe der 6- bis 18-Jährigen ist der Bezug zur Schule direkt gegeben. Weiß man denn, in welchen Situationen die Unfälle passieren, welche Rolle spielt der Schulalltag?
Lasogga: Über die Unfallsituationen weiß man ziemlich gut Bescheid, weil die Reha-Kliniken umfangreiche Anamnesen erheben. Gemeinsam mit den Unterlagen der Unfallkassen lassen sich die Unfallhergänge gut rekonstruieren. Von daher wissen wir, dass in den Schulen selbst – abgesehen von einigen Sportunfällen und Treppenhausstürzen – eher wenige Unfälle passieren. Die meisten Unfälle, aus denen ein Schädel-Hirn-Trauma resultiert, geschehen auf dem Schulweg.
Ein gutes Argument, um einen Fahrradhelm zu tragen, oder?
Lasogga: Mein Eindruck ist, dass Helmträger bei Unfällen tendenziell leichter verletzt werden. Das gilt auch für Sport- und Reitfälle, wo es oft schwere Verletzungen gibt, wenn kein Helm getragen wurde.
Warum ist es insbesondere für Lehrkräfte wichtig zu wissen, welche Auswirkungen ein Schädel-Hirn-Trauma haben kann?
John: Bei betroffenen Kindern und Jugendlichen kann eine große Bandbreite von kognitiven, verhaltens-bezogenen und emotionalen Problemen verursacht werden. Diese beeinflussen den Schulalltag in einer Klasse unter Umständen massiv.
Wie können sich die Folgen einer solchen Hirnverletzung konkret bemerkbar machen?
Lasogga: Die kognitiven beziehungsweise intellektuellen Funktionen unseres Gehirns sind ein komplexes Gefüge. Durch eine Hirnverletzung können sie an jeder Stelle eingeschränkt werden. Die Aufmerksamkeitsfunktionen etwa sind netzwerkartig über das gesamte Gehirn verteilt.
Haben Sie ein praktisches Beispiel aus dem Schulallag?
Lasogga: Zum Beispiel kann im Aufmerksamkeitssystem die Daueraufmerksamkeit betroffen sein. Dann ist ein Kind im Unterricht nicht mehr in der Lage, einem Prozess über längere Zeit zu folgen. Es kommt zum Blick aus dem Fenster und eventuell zu der unangemessenen Intervention der Lehrkraft: „Du hast wohl keine Lust!“ Doch so ein Kind hat einfach einen erschöpften „Akku“, der Fensterblick eine notwendige Erholungsphase. Wichtig wäre, dass die Lehrkraft versucht, das Kind wieder in den Unterricht zurückzuholen. Auch die Lern- und Merkfähigkeit kann beeinträchtigt sein. Oder die Motivation – dann entsteht der Eindruck, dass einem Jugend-lichen nach einem Unfall alles gleichgültig ist.
Können auch sprachliche Fähigkeiten eingeschränkt sein?
Lasogga: Es gibt Kinder, die sowohl in der Sprachaufnahme als auch in der sprechenden Sprache eingeschränkt sind. Andere Betroffene haben ein sehr gutes Sprachverständnis, können jedoch nicht gut artikulieren.
John: Beeinträchtigt sein kann auch die Fähigkeit, Gespräche zu beginnen beziehungsweise diesen zu folgen. Wenn Betroffene zum Unterrichtsgeschehen befragt werden, können sie vielleicht ein Faktum nennen, aber bei vertiefenden Nachfragen nicht angemessen reagieren.
Ändert sich der Umgang mit den eigenen Emotionen?
John: Es kann sein, dass eine Schülerin oder ein Schüler positive und negative Gefühle nicht mehr adäquat regulieren kann. Oder dass seine Belastbarkeit gering ist und es ein zeitliches Limit gibt, in dem über kognitive Leistungen verfügt werden kann. Ist das Limit überschritten, entsteht Stress mit psychovegetativen Symptomen wie Kopfschmerzen, Schwäche, Schwindel, Übelkeit, Angst.
Lasogga: Auch die sogenannten exekutiven Funktionen können betroffen sein. Sie umfassen die Verhaltensregulation, die Fähigkeit, einen Plan zu verfolgen, bewusst mit Emotionen umzugehen, einzuschätzen, was andere von ihnen erwarten und was sie tun können, um diesen Erwartungen zu entsprechen.
John: Wir haben bisher vor allem über die primären Auswirkungen eines Schädel-Hirn-Traumas gesprochen. Zusätzlich können sekundäre Probleme auftreten. Nämlich dann, wenn Kinder und Jugendliche spüren, dass sie schulischen Anforderungen nicht standhalten können. Die Folge können Verunsicherungen, depressives, ängstliches oder aggressives Verhalten sein.
Wie können sich Schulen darauf einstellen?
John: Grundsätzlich muss unter dem Aspekt von Inklusion die Teilhabe der Betroffenen gewährleistet werden. Von daher wäre es gut, wenn man sich in Schulen Gedanken machen würde: Wie reagieren wir, wenn wir ein Kind mit einem Schädel-Hirn-Trauma haben? Wel-che didaktischen und pädagogischen Möglichkeiten haben wir allgemein für Schülerinnen und Schüler, die Probleme im Lernen oder Verhalten zeigen? Und welche individuellen Förderangebote sind im Einzelfall angebracht?
Lasogga: Hier können sonderpädagogische Netzwerke im Einzelfall wichtige Unterstützung bieten.
John:Auf der Haltungsebene von Lehrkräften ist eine gewisse Offenheit und Bereitschaft zur Differenzierung not-wendig. Wir kennen natürlich auch die Zwänge des Schulalltags. Einerseits gibt es bindende Lehrpläne, andererseits den Anspruch, Kinder differenzierter und individualisierter zu betreuen. Das scheitert oft, weil die Ressourcen einer Lehrkraft in einer Klasse mit 28 Kindern und ein oder zwei zu integrierenden Kindern irgendwann einfach erschöpft sind.
Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht die Kommunikation zwischen Lehrkräften und Eltern?
Lasogga: Es liegt ganz in der Entscheidungsfreiheit der Eltern, die Diagnose Schädel-Hirn-Trauma ihres Kindes an die Schule heranzutragen. Aus der Rehabilitationspraxis wissen wir, wie enorm wichtig es ist, dass Eltern gut über die Leistungs- und Verhaltensproblematik ihres Kindes informiert sind. Je besser die Eltern Bescheid wissen, desto größer ist deren Bereitschaft, die Schule einzubeziehen. Auch deswegen haben wir in der Rehabilitation die Einbeziehung der Eltern in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut.
Gute Erfahrungen gibt es aus unserer Sicht mit den Runden Tischen oder Helferkonferenzen. Dabei beraten Lehrkräfte, Eltern, Neuropsychologen, Sonderpädagogen und weitere am Rehabilitations- und Nachsorgeprozess beteiligten Berufsgruppen, wie ein schulisches Konzept für ein betroffenes Kind aussehen könnte. In der Praxis sind das detaillierte zwei bis dreistündige Gespräche, die nachhaltig positive Effekte haben für die Inklusion der Kinder.
Wie lange dauert es eigentlich, bis ein Schädel-Hirn-Trauma ausgeheilt ist?
Lasogga: Das ist individuell sehr verschieden und hängt sicher von der Schwere des Traumas und von der Art der Betroffenheit einzelner Leistungsfunktionen ab.
John: Die Hirnreifung ist ein dynamisches System, bis sie im Erwachsenenalter abgeschlossen ist. Auch nach einer Hirnschädigung entwickeln sich die Leistungssysteme weiter, möglicherweise aber nicht in allen Systemen gleichmäßig.
Lasogga: Es gibt den Begriff des „growing into the deficit“, einzelne Leistungen entwickeln sich nicht weiter, der Leistungsabstand zu gesunden Kindern und Jugendlichen wird dadurch stetig größer.
John: Ein Schädel-Hirn-Trauma zieht also Probleme der Leistungsentwicklung nach sich, die eine kontinuierliche Beobachtung und Begleitung notwendig machen.
Begleitung und Beobachtung – auch eine Aufgabe der Schulen?
John: Es wäre gut, wenn sich Schulen dafür stärker mit externen Partnern vernetzen würden. Wünschenswert wäre auch eine Art Fallmanager, der individuelle Lern- und Förderangebote an einer Schule im Blick hat.
Noch einmal zum Thema „Inklusion“: Wie sollte Schule sich weiterentwickeln?
John: Es sollte eher umweltzentriert als kindzentriert gedacht werden, für mich hätte die Veränderung von Lernbedingungen Vorrang. Und der Unterricht sollte hinsichtlich seiner Didaktik und der Möglichkeiten der Wissensvermittlung dynamischer und flexibler sein. Die in den Schulgesetzen der Länder möglichen Abweichungen von Curricula sollten genutzt werden – Stichwort Nachteilsausgleich und individuelle Lernziele. Den für das einzelne Kind besten Weg finden Lehrkräfte am ehesten, wenn sie ein klares Bild davon haben, welche Auswirkungen ein Schädel-Hirn-Trauma auf den Schulalltag haben kann. Und dazu brauchen Schulen eben die Kooperation mit externen Netzwerken.
Können das Schulen leisten?
John: Es gibt keine perfekten Lösungen. Ich plädiere für einen pragmatischen Ansatz mit Versuch-Irrtum-Lernen. Nach dem Motto: Wir probieren Maßnahmen aus und schauen, ob das Kind davon profitiert. In sinnvollen Zeiträumen überprüfen wir dann diese Maßnahmen.
Lasogga: Uns ist schon bewusst, dass wir einen großen Anspruch an Schulen formulieren. Jeder Lehrkraft wird ein gewisser sonderpädagogischer Sachverstand abverlangt, ohne dass dieser in der Ausbildung regulär vermittelt wird. Aus meiner Sicht wäre es zum Beispiel sinnvoll, wenn nicht allein Sonderpädagogen, sondern alle angehenden Lehrkräfte im Zuge ihrer Ausbildung sonderpädagogische Kompetenzen erwerben würden.
Das Interview führte René de Ridder, Redakteur, Universum Verlag
Rainer Lasogga: Seit 1977 Arbeit als Neuropsychologe in der neurologischen Rehabilitation hirnverletzter Kinder und Jugendlicher im Hegau Jugendwerk Gailingen, 1980 bis 1984 Aufbau und Mitarbeit in der Frühtherapiestelle des Gesundheitsamtes Essen. Mitbegründer des Arbeitskreises Kinder und Jugendliche der Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP). Zertifiziert als Klinischer Neuropsychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Mitglied der BAG Nachsorge erworbener Hirnschäden bei Kindern und Jugendlichen.
Rainer John: Diplom-Psychologe seit 1998, Arbeit im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) für chronisch kranke Kinder Abteilung Neuro-pädiatrie/ Entwicklungsneurologie/Neonatologie der Charité- Berlin seit 2004, Aufbau und Mitarbeit eines spezifischen, ambulanten Betreuungsangebots für Kinder und Jugendliche nach SHT und deren Familien seit 2006, Psychologischer Psychotherapeut (VT) seit 2004, Mitglied des Arbeitskreises Kinder und Jugendliche der Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) seit 2004, aktuell in Ausbildung zum Klinischen Neuropsychologen (GNP), Mitglied der BAG Nach-sorge erworbener Hirnschäden bei Kindern und Jugendlichen.