Fotos: Dominik Buschardt

Fotos: Dominik Buschardt

Schule in Bewegung

Im Eingangsbereich der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule in Göttingen-Geismar herrscht reges Treiben. Kinder laufen kreuz und quer oder fahren mit dem Einrad durch die Halle. Die zehnjährige Merle Welling rennt durch den Eingangsbereich, gefolgt von ihrer Freundin Jule Stobbe. „In der Pause spielen wir hier oft Fangen“, sagt Merle und ist schon wieder außer Sicht.
Diese integrierte Gesamtschule (IGS) ist seit ihrer Gründung vor vierzig Jahren eine Bewegte Schule. Konzept und Gebäude wurden so entwickelt, dass die Schülerinnen und Schüler möglichst vielfältig aktiv sein können – in den Pausen und während des Unterrichts. Für Schulleiter Wolfgang Vogelsänger ist Bewegung ein Kinderrecht: „Kinder nur auf den Kopf und das Denken zu reduzieren, ist unmenschlich“, sagt er.

Projekt des Kultusministeriums

Ähnlich sieht es das niedersächsische Kultusministerium. Mit dem Projekt „Bewegte Schule“ und Partnern wie den Unfallkassen möchte es mehr Bewegung in die Klassen bringen, um Lernen zu fördern. Nicht nur durch zusätzliche Sportstunden: Vielmehr soll der Unterricht allgemein bewegter und motivierender gestaltet werden. Das Ministerium plädiert zudem dafür, den Kindern mehr Bewegungsanreize zu bieten (z. B. im Außenbereich) und Schulstrukturen beweglicher zu organisieren (z. B. durch flexible Pausen). Mit Hilfe von Aktionstagen und Fortbildungen soll der ganzheitliche Ansatz in den Schulen bekannter werden.

Dass Bewegung beim Lernen hilft, zeigen auch psychologische Studien: So kam eine niederländische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2012 zu dem Ergebnis, dass körperliche Aktivität die akademische Leistung von Kindern verbessert. Dafür kann es verschiedene Gründe geben: Neurowissenschaftler nehmen an, dass Laufen und Toben die Durchblutung und dadurch die Sauerstoffversorgung des Gehirns fördern, aber auch ganz neue Nervenzellen und -verbindungen entstehen lassen sowie Stress abbauen, der dem Lernen im Weg stehen könnte. Die positive Wirkung von Bewegung bestätigen auch Beobachtungen an der Göttinger IGS.
„Unsere Oberstufe gehört zu den besten in Niedersachsen“, sagt der Schulleiter stolz und bezieht sich auf die Ergebnisse im ersten Zentralabitur Niedersachsens.

Drehstühle für die Wirbelsäule

Während viele Schulen sich mit dem Projekt des Ministeriums auf Neuland begeben, ist Bewegung an der IGS Göttingen längst selbstverständlich. Schon vor vierzig Jahren wusste man hier: Eine Erhöhung der Sportstunden bringt die 1600 Schülerinnen und Schüler nicht auf die Beine. „Eine Schule muss über den Sportunterricht hinaus Bewegungsanreize bieten“, sagt Vogelsaenger. „Das fängt schon beim Mobiliar an.“

Im Raum einer fünften Klasse: Die Schülerinnen Jule und Merle, die eben noch durch die Eingangshalle tobten, sitzen auf Drehstühlen an höhenverstellbaren Tischen. Die Sitzflächen der Stühle kippen leicht nach allen Seiten. „Die Kinder dürfen darauf kippeln und schaukeln“, erklärt der Schulleiter. „So halten sie ihre Wirbelsäule auch während der Unterrichtsstunden in Bewegung, in denen sie klassischerweise sitzen.“ Außerdem können die Möbel optimal mit den Schülerinnen und Schülern wachsen, da die Kinder „ihren“ ergonomischen Stuhl bis zum Ende der zehnten Klasse behalten.

Trotz der beweglichen Stühle fällt es den Kindern aber oft schwer, lange zu sitzen – gerade wenn sie noch sehr jung sind. Da helfen Bewegungspausen. „Ihr habt ganz fleißig gearbeitet, jetzt steht mal alle auf“, ruft Franziska Degen, die Lehrerin von Jule und Merle, durch die Klasse. Spielerisch anhand einer kleinen Geschichte bringt sie die Kinder dazu, erst die Arme, dann auch die Beine und gleichzeitig den Kopf zu bewegen – das erfordert Koordination und Balance. Die Schülerinnen und Schüler lachen und sind mit Begeisterung dabei. „Bewegungspausen lockern den Unterricht auf“, sagt die Pädagogin. Und der Schulleiter ergänzt: „Bewegung fördert auch die Aufmerksamkeit und Konzentration, das Selbstbewusstsein und das Kennenlernen des eigenen Körpers.“ Das merkt schon die zehnjährige Jule: „Wenn ich mich ausgetobt habe, kann ich mich besser konzentrieren“, erzählt sie.

Flexible Pausen zum Austoben

Während der Unterrichtsstunden bauen die Lehrkräfte zusätzlich immer wieder Phasen ein, in denen sich die Schülerinnen und Schüler zum eigenständigen Arbeiten im Klassenraum, im Aufenthaltsraum davor oder in der ganzen Schule verteilen dürfen. Das bringt Bewegung in den Tag. Genau wie flexible Unterrichtszeiten: Die Lehrkräfte können ihre Stunden relativ frei beginnen und enden lassen, denn es klingelt nicht. Stattdessen gibt es Pausen, wenn sie wirklich nötig sind, sofern dem kein Lehrer-oder Raumwechsel im Weg steht. „Nach einer intensiven Arbeitsphase gebe ich den Kindern auch mal fünf Minuten mehr zum Austoben“, sagt Degen. Ein Konzept, das auch Jules Mutter Susanne Stobbe überzeugt: „In meiner Schulzeit gab es nur Frontalunterricht. In Jules Klasse bewegen sich die Kinder ganz frei an ihren Tischen und um die Tische herum. Das bringt sie als kleine Persönlichkeiten weiter.“

Individuelle Fähigkeiten testen

Auf ein gesundes Mittagessen in der Mensa folgen 45 Minuten „Mittagsfreizeit“, die die Schülerinnen und Schüler selbst gestalten können. Auch dann steht oft Bewegung auf dem Programm. In einer Spielezentrale können sie sich Geräte ausleihen: Federball- und Tischtennisschläger, Bälle, Skateboards, Go-Carts, Einräder und Verschiedenes mehr. Merle schwärmt: „Als ich neu an der Schule war, habe ich in jeder Mittagsfreizeit Einrad fahren geübt. Nach nur zwei Wochen konnte ich es.“ Bei schönem Wetter zieht es die Fünftklässlerin und ihre Mitschülerin Jule nach draußen: „Wir gehen dann aufs Klettergerüst oder fahren mit der Seilbahn.“ Die größeren Schülerinnen und Schüler nutzen dagegen vor allem Basketballkörbe, Skateranlage, Beachvolleyball- und Fußballfeld. Auch die Sporthalle ist geöffnet: Unter Aufsicht können die Kinder und Jugendlichen hier an einer großen Kletterwand üben oder sich im Boulderraum austoben.

Durch die vielfältigen Bewegungsanreize kann jedes Kind seine individuellen Fähigkeiten testen und den Sport finden, der ihm am besten gefällt. Vogelsaenger betont aber auch: „Kein Kind muss sich bewegen.“ Stattdessen hätten die Schülerinnen und Schüler die Wahl, in der Pause rauszugehen oder in der Klasse zu bleiben, Brettspiele und Tischkicker zu spielen oder die Ruhe in der Schulbibliothek zu genießen. „Doch wenn die Kollegen merken, dass sich eine Klasse weniger bewegt, gehen sie einfach zehn Minuten vor Beginn der Pause mit ihnen nach draußen. Dann bleiben nach der Stunde viele dort und sind aktiv“, so Vogelsaenger.

Auch Bewegung im Kopf

Nach der Mittagsfreizeit geht es wieder in die Klassenräume. Zum Konzept der Bewegten Schule in Göttingen gehört auch, dass die Kinder ihre Hausaufgaben bereits in der Schule machen. Dann bleibt noch genug Zeit für Bewegung, sobald sie wieder zuhause sind. Hefte und schwere Bücher lassen sie in der Schule. Das schont Ranzen und Rücken. Der Schulleiter betont: „Eine Bewegte Schule darf sich nicht nur auf Sport beschränken. Auch geistige Bewegung gehört dazu.“ Feste Vorstellungen überwinden, offen sein für neue Ideen – auch das hält Schule und Kommune in Bewegung. Für ihr Konzept gewann die Göttinger Gesamtschule im Jahr 2010 den Deutschen Präventionspreis und 2011 schließlich den Hauptpreis des Deutschen Schulpreises. Sie gehört seither offiziell zu den besten Schulen des Landes.

Über den Zusammenhang von Lernen und Bewegung ist 2012 eine Übersichtsarbeit eines niederländischen Forschungsteams um die Bewegungswissenschaftlerin Amika Singh erschienen. Titel des Artikels ”Physical Activity and Performance at School. A Systematic Review of the Literature Including a Methodological Quality Assessment“. Der Text kann online im Journal “Archives of Pediatrics and Adolescent Medicine“, Ausgabe 166, eingesehen werden (http:// archpedi.jamanetwork.com).

Weiterführende Informationen zur ergonomischen Gestaltung von Klassenzimmern unter www.dguv.de, Webcode d641421.


Die Schule

Gegründet wurde die Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule in Göttingen-Geismar 1975. Von Beginn an legte man hier Wert auf Bewegung – in den Pausen, aber auch im Unterricht. Die 1600 Schülerinnen und Schüler bewegen sich dabei auch in ihren schulischen Leistungen: Nach der 10. Klasse machen die Kinder, die ursprünglich eine Haupt- und Realschulprognose hatten, zu einem hohen Prozentsatz den Erweiterten Abschluss und das Abitur. Unterrichtet werden die Schülerinnen und Schüler von etwa 170 Lehrkräften – darunter auch Förderschullehrerinnen und -lehrer für die sechs Integrationsklassen – und acht Referendarinnen und Referendaren. Mit zum Team gehören außerdem acht Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen.

Nele Langosch, Journalistin und Diplom-Psychologin

redaktion.pp(at)universum.de

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