Mit dem Finger fährt die Frau mit den lockigen Haaren die Worte auf dem Blatt ab. Die Lippen formen jeden Buchstaben einzeln: So-m-m-e-r. Konzentration zeichnet sich auch auf den Gesichtern der übrigen 16 angehenden Lesementorinnen und -mentoren ab, die sich am Samstagmorgen zu einem Vorbereitungsseminar in der Kölner VHS getroffen haben. Dabei ist der Text, den sie lesen sollen, ganz kurz. Nur eine alte Dame lehnt sich entspannt zurück: „Ich habe die Sütterlinschrift noch in der Schule gelernt“, sagt sie lächelnd. Die anderen tun sich schwer mit den unbekannten verschnörkelten Buchstaben. „Ich möchte Sie durch das Entschlüsseln der alten Schrift noch einmal in die Situation von Leseanfängerinnen und -anfängern zurückversetzen“, erklärt Barbara Lange-Schneider den Zweck der Übung. Die Gymnasiallehrerin und Erwachsenen-bildnerin schult regelmäßig Menschen, die sich als ehrenamtliche Lesementorinnen und -mentoren in Schulen engagieren möchten. Dort treffen sie häufig auf Kinder mit Migrationshintergrund, die zwei-, manchmal sogar dreisprachig aufwachsen. „Diese Mädchen und Jungen bringen Kompetenzen mit, an die wir gerne anknüpfen möchten“, sagt Lange-Schneider. Und sie wünscht sich auch Mentorinnen und Mentoren, die neben Deutsch noch eine weitere Sprache wie Türkisch, Arabisch oder Russisch beherrschen. Denn das Lesenlernen und die Erweiterung des Wortschatzes gelingen besonders gut, wenn man die Kinder in ihrer Mehrsprachigkeit abholen und unterstützen kann. Deshalb sucht die Initiative Lesementor auch Ehrenamtliche, die mit Kindern und Jugendlichen in Deutsch und der jeweiligen Muttersprache lesen können.
Keine Nachhilfestunden
Doch zurzeit sind es meist deutschsprachige Frauen, die als Lesementorinnen an Kölner Schulen aktiv sind. „Insgesamt gibt es derzeit circa 620 Mentorinnen und Mentoren“, weiß Angelika Blickhäuser, die als eine von mehreren für die Organisation des Projektes zuständig ist. „Der Bedarf, der uns seitens der Schulen und besonders von den Vorbereitungsklassen für Flüchtlinge gemeldet wird, ist jedoch deutlich höher.“
Blickhäuser bringt die Ehrenamtlichen mit den Schulen zusammen. Bevor es losgeht, werden die Kinder von ihren Schulen ausgewählt. Natürlich müssen sie und ihre Eltern damit einverstanden sein. Einmal in der Woche bekommen sie dann Besuch von „ihren“ Lesementorinnen und -mentoren. Die Lesestunde findet ausschließlich in der Schule, aber außerhalb des regulären Unterrichts statt. Für mindestens ein Jahr verpflichten sich die engagierten Ehrenamtlichen zur Arbeit mit den Kindern.
„Nein, nicht zur Arbeit“, korrigiert Lange-Schneider. „Zumindest nicht im engeren Sinn. Eine Mentorenstunde soll den Kindern Spaß und Lust aufs Lesen machen! Sie knüpft an den Interessen der Mädchen und Jungen an und kann auch schon mal darin bestehen, dass man zusammen, den ,Kicker‘ oder die ,Bravo‘ durchblättert.“ Auch Blickhäuser betont, dass die Mentorenstunden keine Hausaufgabenbetreuung oder Nachhilfestunden sind: „Manchmal müssen Sie sich da von den Erwartungen der Lehrerinnen und Lehrer abgrenzen.“
Lesemöglichkeiten finden und nutzen
Im Seminar geht es mit der Planung einer ersten Mentorenstunde weiter. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten hierzu den kurzen Steckbrief eines Kindes: Cem Özkür ist acht Jahre alt, türkischer Abstammung und besucht die 2. Klasse einer Kölner Grundschule. Seine Eltern besitzen einen Kiosk. Cem interessiert sich für Fußball und Nintendo. Von Deutsch und Hausaufgaben hält er nicht viel. „Ich würde ihn erst mal fragen, was er gerne macht und ob er auch etwas von mir wissen möchte“, sagt eine Teilnehmerin. „Dann könnten wir gemeinsam in die Schulbibliothek gehen und er sucht sich dort ein Buch aus.“ Ein Teilnehmer schlägt vor, Fußballsammelkarten mit in die Schule zu nehmen. „Schöne Idee“, lobt Lange-Schneider. „Nutzen Sie alles, was die Kinder interessiert. Lesen Sie gemeinsam eine Spielanleitung und spielen Sie oder gehen Sie auch mal an den Computer, wenn das in Ihrer Schule möglich ist. Es gibt viele Wege, die Kinder zum Lesen zu bringen.“
Bildung durch Bindung
Schnell wird klar: Die Lesementorenschaft bietet den Kindern eine Einzelbetreuung, die eine Schule nicht leisten kann. „Vertrauen schaffen und Druck rausnehmen“, heißt die Devise. Durch die Bindung, die durch die Lesepartnerschaft entsteht, werden die Kinder ermutigt, sich zu öffnen. „Das macht stark“, so die Erfahrung von Lange-Schneider. „Die Kinder verlieren die Angst davor, Fehler zu machen, fragen, was einzelne Wörter bedeuten, und bekommen mehr Selbstvertrauen, sich auch im Unterricht zu beteiligen.“ Das geschieht natürlich nicht von heute auf morgen. Vielmehr benötigen alle Beteiligten vor allem eins: Geduld! Doch die zahlt sich aus, da ist sich Lange-Schneider sicher. „Denn zusammen lesen macht Spaß – nicht nur den Kindern, auch den Lesementorinnen und -mentoren!“
So wie in Köln fördern bundesweit über 10.000 Mentoren die Leseund Lernlust bei Kindern und Jugendlichen. „MENTOR – Die Leselernhelfer“ freut sich über jeden, der sich als Mentor oder Förderer engagieren möchte. Der Bundesverband vermittelt Ihnen gerne den Kontakt zu dem lokalen MENTOR-Verein in Ihrer Nähe! Infos unter: info(at)mentor-bundesverband.de oder Tel. 0221-16844744 www.mentor-bundesverband.de
Ricarda Gerber, Journalistin und Diplom-Pädagogin
redaktion.pp(at)universum.de
Schwerpunktthema: Bewegte Schule