Herausforderungen aus dem echten Leben
Hunderte Schülerinnen und Schüler klatschen und schwenken große Transparente. Auf den Plakaten steht "Willkommen zurück" und "Wir sind stolz auf euch". Gemeint sind die Acht- bis Zehntklässler, die an diesem Montagmorgen in der Stadtteilschule Winterhude jubelnd empfangen werden. Sie haben sich in den vergangenen Wochen einer echten Herausforderung gestellt: In Gruppen oder ganz allein erkundeten sie etwa die Wildnis Norwegens, machten bei einer Stra.enkünstler- Parade mit oder trainierten für den Triathlon - und wuchsen dabei über sich hinaus. Für ihre Leistungen werden sie nun von der ganzen Schule gefeiert. Das Konzept "Herausforderungen" ist in Deutschland außergewöhnlich. Seit dem Schuljahr 2006/2007 stehen an der Winterhuder Reformschule jeweils in den ersten drei Wochen nach den Sommerferien Selbsterprobung und Abenteuer auf dem Stundenplan. Denn Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen 12 und 16 Jahren ist die Schule meistens ziemlich egal. "Die Jugendlichen brauchen jetzt Herausforderungen aus dem echten Leben", sagt Birgit Xylander, Leiterin der Hamburger Schule.
Daher werden die Schülerinnen und Schüler während ihrer Schullaufbahn drei Mal in die Welt hinausgeschickt, um sich zu bewähren, zu orientieren und die eigenen Grenzen auszuloten. Damit fangen sie schon in der Vorbereitungszeit an: "Sie müssen sich zunächst überlegen, worin ihre persönlichen Herausforderungen bestehen könnten", erklärt Elke Hofmann, Abteilungsleiterin der jahrgangsgemischten Stufen 8 bis 10. Alle Ideen werden zusammengetragen.
Individuelle Hürden überwinden
In diesem Jahr sind auf diesem Wege zwanzig Herausforderungen entstanden. Die Jugendlichen konnten zum Beispiel auf einem Segelschiff mithelfen, auf dem Jakobsweg pilgern oder mit dem Fahrrad nach Amsterdam fahren. Andere begeisterten sich dafür, in einem Kloster zu meditieren, auf einem Bauernhof zu leben oder ein Praktikum in einer sozialen Einrichtung zu absolvieren. Einige der Vorhaben hatten sich bereits in den vergangenen Jahren bewährt. "Doch jedes Jahr werden auch neue Herausforderungen geboren", erzählt Birgit Xylander. Und jeder Plan bringt ganz eigene Schwierigkeiten mit sich: "Es kann zum Beispiel herausfordernd sein, drei Wochen lang von zuhause entfernt zu leben, in der Gruppe zurechtzukommen, körperliche Leistung zu bringen oder in der Wildnis keine richtige Toilette zu haben", sagt die Schulleiterin. "Das ist individuell sehr unterschiedlich." Wer sich welcher Herausforderung stellen wird, entscheidet ein Gremium aus Schülern, Eltern und Lehrkräften. "Die Jugendlichen bewerben sich auf die Teilprojekte. Dabei müssen sie begründen, warum das gewählte Vorhaben gerade sie besonders fordern würde", so Elke Hofmann.
Wie wichtig solche Lebenserfahrungen für die Entwicklung sind, zeigen auch Studien aus der Neuropsychologie: Wissenschaftler haben herausgefunden, dass das Gehirn in der Adoleszenz, also der Zeit zwischen später Kindheit und frühem Erwachsenenalter, besonders sensibel für Umwelteinflüsse ist. Insbesondere entwickeln sich in diesem Alter Hirnprozesse weiter, die die flexible Anpassung an neue, komplexe Aufgaben ermöglichen. Auch soziale und emotionale Fähigkeiten reifen jetzt verstärkt aus - allerdings nur, wenn sie durch die Umwelt gefordert werden. Daher profitieren Jugendliche besonders von Lernerfahrungen, die mit positiven Gefühlen wie Stolz und Freude verknüpft sind.
Verantwortlich für das eigene Vorhaben
Wenn feststeht, wer sich welcher Herausforderung stellen wird, bereiten die Jugendlichen die entscheidenden drei Wochen präzise vor. Dabei fragen sie sich: Was brauche ich für mein Vorhaben: Ausrüstung, Unterkünfte, Bahnfahrten, körperliches Training? Zudem setzen sie sich mit möglichen Gefahren auseinander. Auch die Finanzierung muss geklärt werden: "Ein Sockelbetrag kommt von den Eltern", sagt Abteilungsleiterin Elke Hofmann. "Die fehlende Summe müssen die Schülerinnen und Schüler selbst verdienen, zum Beispiel mit einem Flohmarktstand."
Bereits in der mehrmonatigen Vorbereitungszeit ist so die Eigenverantwortlichkeit gefragt. Es liegt an den Jugendlichen, ob die Herausforderung ein Erfolg wird. Elke Hofmann: "Wir Betreuer und Lehrer lenken nur dann, wenn dies wirklich nötig ist, ähnlich wie Leitplanken."
Je näher der Beginn des Vorhabens rückt, desto mehr steigt die Spannung, nicht nur in den Jahrgängen 8 bis 10: Die ganze Schule fiebert mit. Direkt nach den Sommerferien geht es dann endlich los, gemeinsam mit Lehrkräften, engagierten Studierenden aus der Erlebnispädagogik oder "Ehemaligen", die die Vorhaben begleiten. Auch für die betreuenden Personen sind die folgenden drei Wochen eine Herausforderung. Sie lassen genau wie die Jugendlichen ihre Familien zuhause zurück. Zudem begleiten sie eine ihnen neue Gruppe von Jugendlichen - mit möglichen sozialen Konflikten und unvorhersehbaren Stolpersteinen.
"Ich habe mit einer Gruppe in der Wildnis Norwegens gelebt", erzählt Arne Sorgenfrei, Lehrer und Koordinator des Projekts. "Jeder musste sich um sich und seine Ausrüstung selbst kümmern." Dabei blieb anfangs auch mal eine Jacke nachts im Regen hängen und war morgens durchnässt. "Daraus lernen die Jugendlichen schnell. Jedes Kind entwickelt sich in dieser Zeit anders. Das ist sehr beeindruckend." Trotz der Strapazen wird von dieser Zeit mit leuchtenden Augen erzählt: "Es war nass, kalt, aber auch lustig", sagt Luzie Röther (15). "Wir mussten uns der Natur anpassen. Dabei habe ich gemerkt: Du kannst über deinen Schatten springen! Das hat mein Selbstvertrauen gestärkt." Auch Neuntklässlerin Maguette M'Baye (14) ist begeistert von ihren Erlebnissen auf einem Segelboot in der Ostsee. "Meine Herausforderung bestand vor allem darin, mit vielen Leuten auf engem Raum zu leben", sagt sie. "Manchmal war ich etwas gereizt, aber ich habe auch viele Menschen besser kennen gelernt. Jetzt ist es komisch, wieder allein in meinem Zimmer zu sein." Auch ihre Mutter unterstützt das Konzept sehr: "Maguette kommt nach einer Herausforderung selbstständiger und erwachsener zurück", erzählt Marion Nathe- M'Baye. "Sie scheint anschließend eine konkretere Vorstellung davon zu haben, wer sie sein will und was sie kann."
Ausgezeichnet mit Bildungspreis
Das Konzept ist ein voller Erfolg in der Schülerschaft, bei Lehrkräften und ebenso bei Eltern. Im Jahr 2010 wurde es mit dem Hamburger Bildungspreis ausgezeichnet. "Die Herausforderungen stellen für die Jugendlichen außerordentlich wichtige Erlebnisse dar, die unglaublich persönlichkeitsbildend sind", sagt Direktorin Birgit Xylander. "Sie geben ihnen eine Menge Selbstbewusstsein - das sieht man teilweise sogar an einem veränderten Gesichtsausdruck." Koordinator Arne Sorgenfrei ergänzt: "Die Jugendlichen sind anschließend sogar motivierter für die Schule." Denn die vollbrachte Leistung gibt ihnen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Viele sehen bevorstehenden Prüfungen anschließend zuversichtlicher entgegen - schließlich haben sie auch schon eine echte Herausforderung bewältigt!
Wie entstand das Konzept "Herausforderungen"?
Schulleiterin Birgit Xylander: Die Idee kommt aus der Montessori- Pädagogik: Die Kinder sollen nicht nur in der Schule lernen, sondern werden dafür in die Welt hinausgeschickt. Auch der Erziehungswissenschaftler und Reformpädagoge Hartmut von Hentig plädiert dafür, Schülerinnen und Schülern viel Verantwortung zu geben. Aus diesen Gedanken hat sich langsam unser Konzept entwickelt.
Gibt es Nachahmer an anderen Schulen?
Ja, in ganz Deutschland. Aber keine Schule macht es meines Wissens so konsequent und umfangreich wie wir. Denn das dafür nötige Engagement der Kolleginnen und Kollegen ist nicht zu unterschätzen.
Welche Tipps haben Sie für Schulen, die das Konzept umsetzen wollen?
Für eine solche Veränderung des Schulalltags braucht es viel Mut. Die Schulleitung kann nur die Idee einbringen, es zählt aber das Kollegium: Wenn es dort Bedenken gibt, klappt es nicht. Auch die Eltern müssen von Anfang an mit ins Boot geholt werden. Ihre Ängste werden abgebaut, indem sie spüren, dass man sich viele Gedanken über die konkrete Umsetzung macht. Die Lehrkräfte müssen Sicherheit ausstrahlen.
Haben Sie Pläne für die Zukunft?
Das Konzept wirkt sich auch auf die unteren Klassen aus, die die Herausforderungen gespannt verfolgen. Wir überlegen daher, bereits in den Jahrgangsstufen 5 bis 7 sogenannte "Mini-Herausforderungen" einzuführen.
Nele Langosch, Journalistin und Diplom-Psychologin