Für Bildung fordert die UN-BRK zugunsten der "students with disabilities" "an inclusive education at all stages", also ein gemeinsames Lernen und Leben von Anfang an: in Kindertagesstätten, in der Schule, bei der beruflichen Bildung und beim lebenslangen Lernen. Dafür wird die nötige Unterstützung ("support required") eingefordert.
Die "inklusive Schule für alle" ist für Deutschland mit 16 für Bildung zuständigen Bundesländern, sein gegliedertes Sekundarschulwesen und ein in acht unterschiedliche Schularten aufgesplittetes exkludierendes Förderschulsystem eine echte Herausforderung. Dies auch mit Blick auf so verbreitete Praxen wie Sonderkitas und -gruppen, Zurückstellungen von der Einschulung, der Einrichtung von Diagnose-Förder-Klassen, der zwangsweisen Klassenwiederholung bei schlechten Noten oder der vorherrschenden Ziffernbewertung.
Hinzu kommt: Bundesregierung und Bundestag, die zusammen mit dem Bundesrat die UN-BRK beschlossen haben, weisen jede Verantwortung für die Umsetzung im Bildungsbereich zurück, sind bislang nicht zu finanziellen Unterstützungen bereit ("Kooperationsverbot") und schieben den "Schwarzen Peter" den Ländern, Gemeinden und auch den privaten Trägern von Bildungseinrichtungen zu. Ist also das Inklusions-Glas 2014 halb leer? Andererseits hat sich seit 2009 viel bewegt:
Die Zustimmung in der Bevölkerung für inklusive, also gemeinsame Erziehung und Bildung ist auch aufgrund von zahlreichen differenzierten Medienberichten gewachsen. Es geht nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie.
Inklusionsanteil erhöht
Nicht zuletzt deshalb hat sich zwischen 2009 und 2012 der Inklusionsanteil in den Schulen von zirka 18 Prozent auf 28 Prozent erhöht - bei einer Differenz zwischen den Bundesländern von 15 Prozent (Niedersachsen) und 63 Prozent (Bremen). Länder wie Bayern (25 Prozent), Thüringen (29 Prozent) und Baden-Württemberg (28 Prozent) liegen im Mittelfeld. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist Deutschland zusammen mit Belgien Schlusslicht.
Die Bildungsminister haben fast überall zusätzlich Geld in die Hand genommen für die Fortbildung inklusiv arbeitender Lehrkräfte und die Weiterbildung zu Beratern für Inklusion. Sie haben erkannt, dass für viele Lehrkräfte vor allem Teamarbeit, binnendifferenzierter Unterricht auch in der Sekundarstufe und der Umgang mit für sie unbekannten Beeinträchtigungen oft Veränderungen in der schulischen Alltagsroutine verlangen. Die Sorge vor Überforderung muss durch eine praxisnahe Fortbildung und Beratung aufgefangen werden.
Im Juni 2014 beschloss die Kultusministerkonferenz, dass in allen Lehramtsausbildungen, auch in deren fachdidaktischen Teilen, das Thema Inklusion beziehungsweise Heterogenität aufgenommen werden soll. Einige Länder haben dafür schon zusätzliche Stellen eingerichtet. Manche Länder haben ihre Schulgesetze geändert und dadurch den von der UN-BRK formulierten individuellen Rechtsanspruch auf inklusive Bildung grundsätzlich verankert - und zwar unabhängig von Art und Schwere der Beeinträchtigung. Das gilt zum Beispiel für Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen (NRW). Andere bereiten dies vor oder zögern noch.
Eine Reihe von für die Kitas, Schulen und die Schulentwicklungsplanung zuständigen Trägern (Kommunen, Kreise beziehungsweise kreisfreie Städte, private Träger) haben eigenständige Inklusionsentwicklungspläne erarbeitet. In Großstädten mit wachsender Kinderzahl können dabei andere Entscheidungen nötig sein als in durch sinkende Geburtenzahlen geprägten Landkreisen. Klar ist: Bei der Verankerung inklusiver Bildung in Kitas und Schulen müssen alle Akteure einbezogen werden.
Ist das Glas also halb voll? Unstrittig ist fast überall eine Reihe von Fragen bei der Umsetzung ungeklärt. Hier seien nur vier zentrale Bereiche aufgegriffen:
1. Der gemeinsame Unterricht braucht eine inklusive Schulkultur und innerschulische Unterstützungsstrukturen, will er nicht isoliert bleiben. Das schließt unterstützende Schulleitungen ebenso ein wie ein gemeinsam von Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern sowie Eltern erarbeitetes inklusives Schulverständnis. Alle sollen sich wohlfühlen - eine zentrale Voraussetzung für Lernfreude, aber auch Berufszufriedenheit. Zugleich sollen sich alle Kinder anspruchsvoll bilden können. Nicht zuletzt muss es in der Schule eine Bündelung der sonder- und sozialpädagogischen Arbeit einschließlich der Förderung für besonders Talentierte und Motivierte etwa in Sprachen, Naturwissenschaften, Künsten oder Sport geben, am besten in einem Ressource-Center. Bremen führt dies für alle Schulen unter dem Namen Zentrum unterstützender Pädagogik ein.
2. Bislang ist die zusätzliche sonderpädagogische Unterstützung an eine vorab durchgeführte individuelle Förderbedarfsfeststellung gebunden. Das soll in allen Ländern im Bereich der geistigen Entwicklung sowie der körperlich- motorischen und Sinnesbeeinträchtigungen auch so bleiben. Im Bereich der Lern-, Verhaltensund Sprachförderung haben einige Länder angekündigt und in Modellversuchen schon realisiert, auf Vorab-Feststellungen zu verzichten und stattdessen den Grundschulen und den Sekundarschulen außerhalb der Gymnasien nach der allgemeinen Schülerzahl oder der Zahl der Klassen eine verlässliche sonderpädagogische Grundausstattung zuzuweisen, modifiziert durch die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft oder des Einzugsgebiets einer Schule. Dieses Verfahren schafft personelle Stabilität, ermöglicht kurzfristige Reaktionen auf Krisensituationen sowie eine lernprozessorientierte Förderung und setzt viel Zeit frei, die durch aufwändige Vorabdiagnostik gebunden war. Sonderpädagogen sind dann dauerhaft Teil des Kollegiums.
3. Ein Inklusionskonflikt ist in vielen Ländern die Frage, ob die Schulträger (Kreise, Kommunen, private Träger) für die Barrierefreiheit ihrer Einrichtungen finanziell vom Land entlastet werden müssen ("Konnexität"). NRW hat sich mit seinen Schulträgern auf einen Landesfond außerhalb juristischer Verfahren geeinigt. Es wäre zu empfehlen, dass andere Bundesländer diesem Beispiel folgen.
4. Die Inklusions-Wege der Länder brauchen Evaluation, um zu prüfen, ob einzelne Maßnahmen auch zielführend sind. Forschungsergebnisse, etwa des Instituts für Qualitätsforschung (IQB), belegen erneut, dass gemeinsames Lernen bei Kindern mit Lern-, Sprach- und Entwicklungsproblemen zu besseren Lernerfolgen führt. Solche Ergebnisse sind auch bei anderen Beeinträchtigungen zu erwarten, wie internationale Studien vermuten lassen.
Zusammenfassend: Ob auf dem Weg zur inklusiven Bildung das Glas halb voll oder halb leer ist, hängt vom konkreten Thema und natürlich vom Standort ab. Ich meine: Es bewegt sich viel, aber noch nicht genug.
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