Frau Müller-Staske, erinnern Sie sich an ihren letzten Einsatz als Notfallpsychologin?
Da rief mich die Leiterin einer Grundschule über das Notfallhandy des Hessischen Kultusministeriums an. Während eines Feiertags war völlig unerwartet eine junge Lehrerin verstorben. Am nächsten Schultag fuhr ich gemeinsam mit einer Kollegin hin, um das Kollegium und die Schulleitung schon vor Unterrichtsbeginn zu beraten, wie sie mit der Situation umgehen können. Häufig werden wir auch angefordert, wenn jemand bei Unfällen zu Schaden gekommen ist oder wenn es einen Suizid in der Schülerschaft oder im Kollegium gegeben hat. Zumeist werden wir von der Schulleitung oder dem schulischen Krisenteam verständigt.
Was tun Schulpsychologen, um Betroffenen in einer Krisensituation zu helfen?
Zum einen beraten wir direkt die Lehrkräfte. Je jünger die beteiligten Schulkinder sind, desto eher brauchen sie im Krisenfall den Kontakt zu einer vertrauten Person, um das Geschehene zu verarbeiten. Wenn wir direkt mit Schülerinnen und Schülern arbeiten, ist es wichtig herauszufinden: Wer ist wie stark vom Ereignis erschüttert?
Ganz allgemein kann ich sagen, dass wir ressourcenorientiert arbeiten. Wir versuchen, Bewältigungsstrategien zu aktivieren, über die Kinder und Jugendliche oft schon verfügen. Nach dem Motto: "Ist Dir früher schon mal etwas Schlimmes passiert? Und was hast Du damals gemacht, damit es Dir besser ging?"
Angenommen, ein Kind käme nahe der Schule bei einem Verkehrsunfall ums Leben, und andere Schülerinnen und Schüler hätten dies beobachtet. Wie reagieren Sie in so einer Lage?
Sobald die Schulleitung uns anfordert, kommen wir zur Schule und nehmen Kontakt mit dem schulischen Krisenteam auf. Dann wäre zu klären: Welche Kinder waren Augenzeugen? Sind auch Lehrkräfte vom Ereignis betroffen? Es gäbe je nach dem Grad der Betroffenheit Gesprächsangebote, Gruppengespräche und Einzelgespräche. Aus diesem Grund sind wir bei Notfalleinsätzen grundsätzlich im Zweierteam unterwegs: Es kann immer passieren, dass Menschen unvorhergesehene Reaktionen zeigen und intensiver im Einzelgespräch betreut werden müssen.
Auch die Eltern würden wir informieren, wie sie ihre Kinder am besten unterstützen können, um etwa den Unfalltod eines Mitschülers oder einer Mitschülerin zu verarbeiten. Das kann im Einzelgespräch geschehen oder im Rahmen eines Elternabends.
Lehrkräfte sind sehr wahrscheinlich die ersten am Ort des Notfallgeschehens - noch vor dem Eintreffen der Rettungskräfte. Wie sollten sie sich gegenüber anwesenden Schülerinnen und Schülern verhalten?
Ich empfehle die Grundregel der psychischen ersten Hilfe: Die Schülerinnen und Schüler am besten vom direkten Unfallort wegbringen und beruhigen und explizit sagen, dass sie sich in Sicherheit befinden. Äußerst wichtig ist es, selbst ruhig zu bleiben und den Anwesenden mit dem eigenen Verhalten Sicherheit zu vermitteln. Denn in Ausnahmesituationen beobachten Kinder und Jugendliche ganz genau das Verhalten der Erwachsenen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Lehrkräfte dies meist sehr gut bewältigen.
Schaulustige sollten vom Unfallgeschehen möglichst ferngehalten oder in Hilfemaßnahmen eingebunden werden. Den Verletzten oder Beteiligten selbst sollten Kontrollerlebnisse vermittelt werden, Lehrkräfte könnten beispielsweise fragen: Möchtest Du eine Decke? Also bewusst kleine Entscheidungsfragen stellen. Aufmerksam zuhören, aber nicht die Situation verharmlosen. Grundsätzlich gilt, dass Menschen in einer solchen Krisensituation ein sehr großes Bedürfnis nach Information haben. Für sie ist durch ein unerwartetes Ereignis die Welt manchmal komplett aus den Fugen geraten.
Wie sollten Lehrkräfte auf unorthodoxe Reaktionen von Beteiligten, etwa Lachen, reagieren, obwohl jemand schwer verletzt ist?
In einer Krisensituation kann es bei Menschen zu Reaktionen kommen, die sie noch nie an sich festgestellt haben. Ein so schockartiges Ereignis kann eine ganze Bandbreite von Gefühlen hervorrufen, das ist normal und sollte nicht moralisch bewertet werden.
Wenn Kinder und Jugendliche in eine Krisensituation geraten, ist da nicht ein Gespräch mit Therapeuten zu empfehlen?
Meiner Erfahrung nach benötigen die meisten Schülerinnen und Schüler über die notfallpsychologische Erstbetreuung und weitere Gesprächsangebote der Schulpsychologie hinaus keine therapeutische Intervention. Da wird sehr viel vom sozialen Umfeld der Schülerinnen und Schüler aufgefangen. Trotzdem ist zeitnahe Betreuung im Krisenfall wichtig. Denn eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) aufgrund eines belastenden Ereignisses wird durch eine Notfallbetreuung zwar nicht verhindert. Aber je früher kritische Symptome erkannt und behandelt werden, desto besser sind später die Heilungschancen. Im Fall einer PTBS kann professionelle psychotherapeutische Hilfe notwendig sein.
Welche Warnsignale gibt es, dass eine Schülerin oder ein Schüler ein belastendes Ereignis möglicherweise nicht so gut verkraftet hat?
Wichtige Anzeichen sind Verhaltensänderungen: Zum Beispiel jemand, der vorher aktiv war, zieht sich zurück. Vielleicht zeigen Schülerinnen und Schüler auch Nervosität, Leistungsabfall, Konzentrationsprobleme oder ein verändertes Essverhalten. Wenn eine Lehrkraft sich das zutraut, kann sie das Gespräch mit der betroffenen Person suchen, die eigenen Beobachtungen schildern und Hilfe anbieten. Die Lehrkraft könnte zum Beispiel sagen: "Ich bin etwas besorgt. Gibt es irgendetwas, was Dir helfen könnte?"
Wo gibt es Unterstützung im Umgang mit belasteten Kindern und Jugendlichen?
Lehrerinnen und Lehrer können sich direkt an die Schulpsychologie wenden, die je nach Bundesland für akute Krisen auch Notfalltelefone anbietet. In akuten Situationen wird von der Schulpsychologie auch recht zeitnahe Hilfe ermöglicht.
Was war ihr persönlich schwierigster Einsatz als Notfallpsychologin?
Der Einsatz nach dem Amoklauf in Winnenden war eine belastende Situation. Als positive Erfahrung habe ich mitgenommen, dass die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen sehr gut funktionierte. Unsere Arbeitskonzepte zum Krisenmanagement stießen bei den Beteiligten auf Akzeptanz und bewährten sich auch bei solchen Großschadenslagen.
Das Gespräch führte René de Ridder, Redakteur (Universum Verlag)