Herr Professor Braus, schaden oder nützen digitale Medien Kindern und Jugendlichen?
Das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Insgesamt steht die Wissenschaft bei diesem Thema noch ziemlich am Anfang. Zum Beispiel die Langzeitfolgen von Mediennutzung sind noch überhaupt nicht erforscht. Zwei Faktoren sind wichtig: Wie alt ist das Kind oder der Jugendliche? Und wie hoch ist die "Dosis" der Mediennutzung? Es ist ein entscheidender Unterschied, ob sich Jugendliche täglich eine Viertelstunde oder sechs Stunden mit digitalen Medien beschäftigen.
Auf welche Weise bereitet man künftige Lehrkräft e auf arbeitsbedingte psychische Belastungen vor?
Das Modul Personale Kompetenz bietet neben einer Überblicksvorlesung viele praxisnahe Seminare an. Die Teilnahme ist für Studierende verpflichtend, seitdem die Prüfungsordnung für das gymnasiale Lehramt in Baden-Württemberg 2010 geändert wurde. Unsere Trainings sollen personale Kompetenzen und Ressourcen stärken und Strategien für den Umgang mit berufsbezogenen Belastungen vermitteln. Neben einer guten Kommunikation mit Schülerinnen, Schülern, Eltern und Kollegen gehört es auch dazu, die eigene Lebensführung unter die Lupe zu nehmen. Für Lehrkräfte wichtig, weil beispielsweise fehlende Lehrerarbeitsräume in Schulen die räumliche und emotionale Trennung zwischen Arbeit und Privatleben erschweren.
Welche Rolle spielt das Lebensalter? Beeinflussen digitale Medien das Gehirn eines jungen Mädchens anders als das einer 35-jährigen Lehrerin?
Ja, völlig anders. Einem etwa zweijährigen Kind fluten die Informationen völlig ungefiltert ins Gehirn. Ihm fehlt noch der kognitive Kontrollapparat, um virtuelle Realitäten zu bewerten. Die entsprechenden Kontrollfunktionen werden erst während der Pubertät zwischen dem 9. bis zum 26. Lebensjahr entwickelt. Während dieser Zeit gleicht das Gehirn einer Großbaustelle, in der fundamentale Veränderungen stattfinden, der Einfluss von Medien und Peergroups gewaltig und die Suchtanfälligkeit hoch ist. Denn in dieser Entwicklungsphase reagieren Nervenzellen besonders stark auf den Neurotransmitter Dopamin. Dieser Botenstoff aktiviert unser internes Belohnungssystem und steuert positive Emotionen. Das ist ein Grund, warum digitale Medien mit ihren kurzgetakteten, immerwährenden Impulsen auf Jugendliche so große Faszination ausüben können.
Ist es denn problematisch, wenn das Dopaminsystem des Gehirns angeregt wird?
Prinzipiell ist dieses Belohnungssystem wichtig für unsere Motivation und Entwicklung. Doch das System ist nicht darauf angelegt, alle zwei Minuten aktiviert zu werden, sondern soll unerwartete Ereignisse verarbeiten. Gewöhnt es sich an ständige Reize, wird es irgendwann nicht mehr aktiv.
Weiß man denn, wie digitale Medien sich auf die Konzentrationsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen auswirken?
Viele Medienoberflächen begünstigen beim Nutzer kurze Aufmerksamkeitsspannen. Dies erschwert bei Kindern und Jugendlichen die Ausbildung der sogenannten Exekutivfunktionen, die mit der Entwicklung des Frontalhirns einhergehen. Darunter versteht man die Fähigkeit, Regeln zu verstehen, sich selbst zu kontrollieren und langfristige Ziele mit Ausdauer zu verfolgen. Diese wichtigen mentalen Funktionen entscheiden in Schule und später im Erwachsenenleben darüber, wie erfolgreich und zufrieden jemand ist. Sie sind nicht angeboren, sondern müssen von jedem Kind erlernt werden. Ein tagtäglich stundenlanger Medienkonsum wie Fernsehschauen fördert die Ausbildung der Exekutivfunktionen nicht. In der Konsequenz heißt dies, dass ein Kind später wesentlich geringere Chancen hat, einen hochqualifizierten Abschluss zu schaffen.
Liegen dazu auch konkrete Studien vor?
In einer Studie wurde beispielsweise untersucht, wie Medien die Fokussierungsleistung von Kindern beeinflussen. Bevor Kinder Aufgaben zu lösen hatten, ließ man sie Filmcartoons schauen, ein anderes Mal mit dem Zeichenstift arbeiten. Das Ergebnis: Nach der Arbeit mit dem Zeichenstift gelang es den Kindern, die Aufgaben deutlich besser zu lösen. Im Vergleich zum Filmeschauen ermöglichte das Zeichnen den Kindern eine höhere Fokussierungsleistung.
Haben Wissenschaftler auch positive Effekte von Mediennutzung feststellen können?
Geeignete Lernprogramme können die Exekutivfunktionen von Jugendlichen mit leichtem Handicap verbessern. Und es kann auch durchaus Sinn machen, dass Schülerinnen und Schüler gezielt Internetplattformen nutzen, um an gemeinsamen Unterrichtsprojekten zu arbeiten.
Was bedeutet es für das Lernen, wenn Jugendliche am Rechner blitzschnell zwischen Programmen, sozialen Netzwerken und Internet hinund herwechseln?
Multitasking erschwert, sich auf eine Aufgabenstellung zu fokussieren. So zeigt eine Studie, dass Studierende, die während einer Vorlesung auf soziale Netzwerke zugreifen konnten, im anschließenden Test schlechtere Leistungen erbrachten. Eine weitere Untersuchung ergab, dass Laptops, die Multitasking ermöglichen, schulische Leistungen vermindern. Wer vier oder fünf Dinge gleichzeitig macht, dessen Performanz ist in allen Dingen schlecht.
Wie stehen Sie zur intensiven Medienbildung in der Primarstufe?
Ich halte es für ein Märchen, dass Kinder so früh wie möglich an Medien herangeführt werden sollten. Denn für Medien braucht es eine bestimmte neuronale Ausrüstung. Aus neurowissenschaftlicher Sicht gibt es zurzeit keine Daten, die belegen, dass elektronische Medien in Grundschulen positive Effekte haben. Daher würde ich in der Primarstufe Medienkompetenz-Projekte sparsam dosieren. In diesem Alter sollten Kinder am besten über Interaktion und am sozialen Modell lernen. Dafür spricht auch eine interessante Studie aus China. Man filmte eine Frau beim Vorlesen eines Kinderbuchs. Anschließend spielte man einem Kind diese Aufzeichnungen vor - es lernte dabei nichts. Trat die Frau in direkten Kontakt und las dabei dagegen real vor, lernte das Kind chinesische Wörter.
Macht es eigentlich einen Unterschied, einen Text auf gedrucktem Papier oder am Bildschirmmonitor zu lesen?
Das Lesen eines gedruckten Buchs und das Schreiben mit Papier und Stift sind für das Gehirn eine größere Herausforderung und hinterlassen damit eine stärkere neuroplastische Spur als das Lesen eines E-Books oder das Benutzen einer Tastatur mit verfügbarem Schreibprogramm. Es dem gesunden Gehirn eines heranwachsenden Schülers besonders leicht zu machen, fände ich aus neurowissenschaftlicher Sicht falsch.
Wie wichtig ist es, dass Lehrkräfte und Eltern Kinder und Jugendliche bei der Mediennutzung begleiten?
Kinder und Jugendliche in der frühen und mittleren Pubertät sollten altersgerecht an die Mediennutzung herangeführt werden. Voraussetzung ist aber, dass sich Eltern und Lehrkräfte selbst gut auskennen in der Welt der sozialen Netzwerke und Smartphones.
Warum sind Regeln zur Mediennutzung so wichtig?
Wie schon gesagt entscheidet oft der konkrete zeitliche Umfang, ob Medien eine negative Wirkung für Kinder und Jugendliche entfalten. Also sollte festgelegt werden: Wie lange darf am Rechner gesessen werden? Wann wird der Fernseher spätestens ausgemacht? Ebenso sollten Eltern regeln, ab welchem Alter Jugendliche ein Handy besitzen und mit welchen Einschränkungen sie dieses benutzen dürfen. All das sollte geklärt werden, bevor Kinder anfangen, Medien zu nutzen. Natürlich hängen die Regeln stark vom Lebensalter ab. Für die Klassen 6, 7 und 8 sollten es täglich höchstens 2 Stunden inklusive weniger als 30 Minuten Smartphone sein, in der Oberstufe maximal 3 Stunden pro Tag inklusive Smartphone-Nutzung für die Freizeit. Die Nutzung für schulische und ehrenamtliche Aufgaben ist davon ausgenommen. Wichtig finde ich auch, die vereinbarten Regeln zum Mediengebrauch konsequent durchzusetzen.
Wie halten Sie es persönlich mit den digitalen Medien?
Ich erinnere mich noch an die Zeiten, in denen man nach einer Telefonzelle suchte. Heutzutage können sich viele Jugendliche nicht mehr vorstellen, wie ein Leben ohne permanente Erreichbarkeit ausschaut. Ich persönlich habe erst seit fünf Jahren ein internetfähiges Mobiltelefon, nutze digitale Medien gezielt und dosiert. Auf Apps und soziale Netzwerke verzichte ich bewusst.
Prof. Dr. Dieter F. Braus ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an den Dr. Horst-Schmidt-Kliniken Wiesbaden und lehrt an der Universitätsklinik Mainz. Zuvor forschte Braus u. a. in Hamburg und an der Harvard Medical School Boston zum Thema Funktionelle und strukturelle Bildgebung.
René de Ridder ist Redakteur bei DGUV pluspunkt.