"Komm, wir spielen Baby ertränken", schlägt der neunjährige Timo (Name von der Redaktion geändert) vor. "Du bist der Papa und hältst das Baby." Stefan Stark, psychologischer Psychotherapeut, spielt mit und nimmt die ihm zugewiesene Rolle ein. Der Junge korrigiert ihn: "Du musst das Baby am Hals festhalten. Kuck, so." In diesem Moment nimmt Timo die Puppe und greift sie mit beiden Händen um den Hals. "Jetzt atmet das Baby nicht mehr." Ohne einzulenken oder zu bewerten beobachtet Stark, was passiert. Dabei fragt er sich: Warum spielt das Kind genau diese Szene? Was ist ihm wohl in der Vergangenheit zugestoßen? Hat es Angst? Ist es traurig oder wütend?
Das Verhalten, das der Junge hier im Spiel widerspiegelt, ist das Verhalten seines suchtkranken Vaters, der im Vollrausch vom Schreien des Babys überfordert ist und Ruhe einfordert.Stefan Stark arbeitet seit 2006 bei Drachenherz, einer Marburger Suchtberatungsstelle für Kinder und Jugendliche. Sie gehört zur Suchtberatungsstelle "Blaues Kreuz" e. V. für suchtgefährdete oder suchtkranke Erwachsene. Zum Drachenherz-Team gehört auch die Diplom-Psychologin Katrin-Lisette Schlötterer. Stark und Schlötterer begleiten Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr.
In Deutschland lebt - zumindest zeitweise - etwa jedes sechste Kind mit einem suchtkranken Elternteil zusammen. Das Suchtspektrum der Eltern ist vielfältig: Alkohol, illegale Drogen, Medikamente oder Spielsucht. Hinzu kommen bei den Eltern häufig noch psychische Erkrankungen. "Die Kinder, die wir begleiten, haben oft Schlimmes erlebt. Viele von ihnen haben schon selbst psychische Auffälligkeiten entwickelt, zum Beispiel starke Ängste", erzählt Stark aus dem Allt
Vertrauen aufbauen
Ein Teil der Anfragen kommt übers Internet - anonym per E-Mail: In vielen Fällen von Angehörigen wie Großeltern, Tanten oder älteren Geschwistern, manchmal auch von Nachbarn betroffener Familien. Häufig vermitteln außerdem Lehrerinnen und Lehrer, Kinderärzte oder Betreuer von Vereinen den Kontakt zum Drachenherz- Team. Dann laden Stark oder Schlötterer die Angehörigen zu einem ersten Gespräch ohne Kind oder Jugendlichen ein. In diesem Gespräch wollen sie herausfinden, wie die Verhältnisse in der Familie sind. Darauf folgt ein zwanzigbis dreißigminütiges Gespräch mit dem betroff enen Kind oder Jugendlichen. Wenn die Beteiligten einverstanden sind, werden vorerst drei Probetreff en vereinbart, die einmal wöchentlich stattfinden. Um eine Beziehung zu den jungen "Klienten" anzustoßen, ist Spielen angesagt. Jugendliche bevorzugen eher den Kicker oder den Boxsack, suchen aber vor allem das Gespräch. Kleinere Kinder malen gerne, klettern auf die Hochebene, spielen mit Barbies oder bauen mit Lego. Die Kinder können die Spielzeuge auswählen, auf die sie Lust haben.
Emotionen rauslassen
"Zum Konzept gehört auch, dass die Kinder und Jugendlichen bei den Treffen eins zu eins betreut werden und dass die Bezugsperson stets dieselbe bleibt", beschreibt Stark das Konzept. So bauen sie schneller Vertrauen auf, als dies in einer Gruppe der Fall wäre." Und immer gilt das Motto: "Jeder redet, wann er will. Da sind die Kleineren manchmal unbedarft er. Sie sprechen im Spiel recht offen über das, was in der Familie vor sich geht", erzählt der Therapeut. "Jugendliche sind häufig verschlossener. Sie tasten sich langsam heran und testen, ob sie mir und meiner Kollegin vertrauen können." Denn Vertrauen ist Drehund Angelpunkt, dazu gehört auch die Schweigepflicht: Das, was im Spiel zu Tage tritt, bleibt zwischen Betreuer und Betroffenem.
Viele Kinder werden aggressiv oder sind völlig abgestumpft. Einige haben über einen langen Zeitraum ihre Emotionen wie Angst, Wut, Zorn und Trauer unterdrückt. Sie lernen während der Sitzungen, ihre Gefühle wieder zuzulassen. "Kinder wollen ihren Familien helfen und stellen häufig ihre eigenen Bedürfnisse zurück. Sie verbieten sich selbst, fröhlich zu sein", erklärt Stark. So sind Kinder oder Jugendliche teilweise ganz überrascht, wenn sie bemerken, dass sie einfach mal wieder beherzt lachen können oder wütend gegen den Sandsack boxen, bis sie in Tränen ausbrechen. Damit die Kinder und Jugendlichen ihren Gefühlen freien Lauf lassen können, müssen sie sich in der Umgebung wohlfühlen. Der hell eingerichtete Besprechungsraum mit flauschigem Teppich und gemütlichen Wippstühlen wirkt wie ein Wohnzimmer. Auch der Spielraum ist hell und freundlich eingerichtet. Eine Voraussetzung, dass die Kinder gerne zu Drachenherz kommen.
Rückfälle gehören dazu
Neben erfolgreichen Entwicklungen gibt es immer wieder auch Fälle, bei denen Kinder oder Jugendliche sich nur langsam entfalten. Etwa im Fall der 16-jährigen Sophie (Name von der Redaktion geändert). Sie war schwer essgestört und litt unter einer Depression. Von den Foto: shutterstock Therapeuten wurde sie an eine Klinik vermittelt. Nach dem Aufenthalt kam das Mädchen zurück zu ihrer Mutter. Das ging eine Zeitlang gut, bis Sophie wieder in ihre alten Verhaltensmuster zurückfiel. Erneut kam Sophie zur Suchberatungsstelle. "Es vergingen mitunter viele Sitzungen, in denen wir gar nicht über das Problem selbst geredet haben. Oder wenn wir geredet haben, hat sie teilweise mitten im Satz abgebrochen und über was ganz anderes gesprochen", berichtet Stark. Nach einigen Gesprächen auch mit der Mutter schlug der Therapeut letztendlich vor, ob es für Sophie nicht besser sei, von zu Hause auszuziehen. Ein Schritt, der ihr zunächst gut tat. Doch dann gab es wieder einen Rückschlag. Ihr Freund hatte sich von ihr getrennt. Das war zwar scheinbar der Auslöser für erneut aufflammende Symptome, aber was Sophie wirklich beschäftigte, war die Trennung von der Familie ihres Freundes, bei der sie Geborgenheit und Wertschätzung erfahren hatte.
Von einem guten Netzwerk profitieren
Das Drachenherz-Team arbeitet mit verschiedenen Institutionen zusammen. Zum Netzwerk zählen caritative Einrichtungen, Sport- und Kulturvereine, der Kinderschutzbund, aber auch das Jugendamt sowie Ambulanzen, Kliniken und Arztpraxen. So können Stark und Schlötterer auch auf Angebote dieser Institutionen zurückgreifen und die Kinder und Jugendlichen vermitteln. Eines der Kinder hat zum Beispiel seine Leidenschaft fürs Dartspielen entdeckt. Seitdem der Junge im Verein spielt, ist er merklich selbstbewusster und fröhlicher. Nicht immer bekommen die Drachenherz- Fachkräft e mit, ob ihre Arbeit auch Früchte getragen hat. Umso schöner ist es, wenn unerwartete Rückmeldungen kommen: "Ich schaue immer wieder gern auf ein Bild, das mir ein zehnjähriger Junge bei seiner letzten Sitzung geschenkt hat. Darauf zu sehen sind zwei Delphine, die aus dem Wasser springen. Es wirkt, als springe der eine Delphin im Schutze und in Begleitung des anderen. Stark: "Wenn ich das Bild ansehe, schöpfe ich viel Kraft für meine Arbeit."
Diane Zachen ist Redakteurin bei DGUV pluspunkt.