Pausen sind im Winter kein Zuckerschlecken. Kalter Wind fegt über den Schulhof, und wer nicht aufpasst, dem knallt ein Schneeball ins Gesicht. Genauso schlimm ist es, vom eisglatten Hügel geschubst zu werden, berichten Schulkinder mit ernster Miene. Die 4b hat sich zum Klassenrat zusammengesetzt. Ein Junge sagt: "Der Hügel auf dem Schulhof ist zu gefährlich!" Bei der Abstimmung schießen die Hände in die Höhe, damit der Hügel dem Erdboden gleichgemacht wird. Finn, der Klassensprecher, wird das eindeutige Votum später mit ins Schülerparlament nehmen. Demokratie und Teilhabe sind in der Albert-Schweitzer-Schule keine leeren Worte. Ein ausgefeiltes System von Gremien ermöglicht Kindern von der ersten Klasse an mitzubestimmen.
Rückblick auf die Woche Basis sind die Klassenräte.
Einmal pro Woche verwandelt sich jede Klasse eine Stunde lang in ein kleines "Nachwuchs- Parlament". Eingeleitet wird die Sitzung mit zwei einfachen Fragen. Was war in der vergangenen Woche gut? Und was war schwierig? Nils, zehn Jahre alt und amtierender Sitzungspräsident der 4b, eröffnet den Rückblick, indem er einen strubbeligen Ball in die Runde reicht. Abgesehen vom Hügelschubsen gibt es noch andere Vorkommnisse. Etwa, dass Kinder andere Kinder mit Sand bewerfen. Oder dass der Schiri "pennt", wenn beim Zombieball die Regeln verletzt werden. Auch das Winterwetter hat seine Tücken. "Es ist schwer zu entscheiden, ob man mit oder ohne Jacke auf den Schulhof gehen soll", sagt eine Schülerin und reicht den Stoffball an den Präsidenten zurück. Nach der Kritik folgen die Highlights der Woche: Pizza am Donnerstag, rote Herzen im Kunstunterricht und ein spannender Klassenausflug. Damit die Rückschau nicht ausufert, beobachtet eine Schülerin als Zeitwächterin penibel die Uhr. "15 Minuten sind um", informiert sie - die Zeit rast heute mal wieder. Klassenlehrerin Carola Süss sitzt mit im Stuhlkreis. Wenn sie einen Redebeitrag hat, muss sie sich melden und das Wort erteilen lassen - wie alle anderen auch. Die Lehrerin bittet um Vorschläge für das Schulfest. Die Ideen sprudeln: Becher basteln, Steine anmalen, Holzflugzeuge bauen, Bowling spielen. Mona, die Protokollführerin, beeilt sich, um alle Vorschläge zu notieren. "Wie schreibt man Bowling?", fragt sie. "Schreib doch Kegeln", sagt Sitzungsleiter Nils geistesgegenwärtig.
Heikle Themen im Klassenrat
Auch heikle Themen werden auf Zetteln festgehalten, in einem Kasten aufbewahrt und auf die wöchentliche Tagesordnung gesetzt. Wie die ärgerliche Sache mit dem Qieken. Ein Viertklässler nervt die anderen Kinder regelmäßig mit einem Quiekgeräusch. Ein Mitschüler schlägt vor: "Drei Ermahnungen, dann muss Frau Süss einschreiten!" Bei diesem couragierten Ruf nach der Lehrerautorität muss die Klassenlehrerin etwas schmunzeln. Eine weitere Idee des Klassenrats: Falls der Junge so weitermacht, soll er die Pausen im Schulgebäude verbringen. "Das ist doch gar keine Strafe bei der Kälte draußen", lautet sogleich ein Einwand. Der Mitschüler, um den sich die Diskussion dreht, stimmt zu: "Nee, das wäre keine Strafe." Ratlosigkeit macht sich breit, der Klassenrat will das Thema im Auge behalten.
Die Gemeinschaft wächst
Obwohl in dieser Angelegenheit vorerst keine Lösung gefunden werden konnte, haben Klassenräte und Schülerparlament schon viele gute Projekte auf den Weg gebracht. Die Kinder entschieden sich für den Bau eines Baumhauses oder beratschlagten, wie Flächen auf dem Schulgelände neu gestaltet werden sollten. Sie beschlossen, nach der Atomkatastrophe in Fukushima zeitweilig ein japanisches Kind in die Schulgemeinschaft aufzunehmen und stellten das Schulfest 2011 unter das Motto "Japan" - dabei kamen 1000 Euro an Spendengeldern zusammen. Und das Gemeinschaftsgefühl der 4b habe sich - trotz des quietschenden Mitschülers - sehr gut entwickelt, betont die Klassenlehrerin. Sie ist überzeugt, dass die regelmäßigen Klassenratssitzungen daran großen Anteil haben. Dabei lernen die Kinder im Idealfall, Regeln einzuhalten, Meinungen zu vertreten, Konflikte zu bewältigen, Verantwortung zu übernehmen und anderen zuzuhören.
Entlastung für Lehrkräfte
Auch das Kollegium profitiert von der demokratischen Früherziehung. "Es läuft viel weniger über die Lehrkräfte, weil die Kinder mehr regeln. Eine Entlastung", ist Carola Süss überzeugt. Weiterer Vorteil: Klassenratssitzungen bieten Grundschullehrkräften einen zusätzlichen faszinierenden Einblick in die Sorgen, Nöte und Freuden der Kinder. Für die ist es eine aufregende Herausforderung, die fast einstündigen Sitzungen souverän zu leiten. Wie gut das jeweils gelingt, bespricht die Klasse bei der Feedback-Runde. Dabei fällt oft der wertschätzende Satz: "Ich finde, Du hast es gut gemacht!" Hoch im Kurs stehen auch resolute Leisewächter, die schwätzende Mitschüler in ihre Schranken gewiesen haben. Die Ämter des Klassenrats rotieren und werden Woche für Woche neu vergeben. So kann jeder Präsident, Protokollant, Leise- oder Zeitwächter auf Zeit sein. Wer so oft diskutiert und abstimmt, entwickelt Selbstbewusstsein und fordert Rechte ein. Das spüren auch Väter und Mütter, wie die Klassenlehrerin in Gesprächen erfahren hat. Eltern müssen also mit Diskussionsbereitschaft rechnen, wenn zu Hause der Spülmaschinendienst verteilt werden soll.
Abstimmung über den Hügel
Einmal pro Woche tagt das Schülerparlament. Dann diskutieren die Klassensprecher Themen, die die gesamte Schule betreffen. An diesem Mittwoch entflammt eine Diskussion über inkompetente Fußballschiedsrichter auf dem Schulhof. "Viele wissen nicht, wann Elfmeter ist oder wann es eine rote Karte gibt", klagt Viertklässler Paul. Schulleiterin Barbara Busch, die an der Sitzung teilnimmt, schlägt vor, einen pensionierten Fußballtrainer für eine Fortbildung zu gewinnen. Schließlich steht auf der Tagesordnung ein wohlbekanntes Thema - der gefährliche Hügel. Die sanfte Erhebung ist etwa 30 Zentimeter hoch, Erwachsene würden wohl von einem Hügelchen sprechen, doch als Grundschüler kann man das auch ganz anders sehen. Fünf Klassen sind dafür, dass er bleibt, acht sind dagegen - der Hügel ist abgeschafft! Mit einem Handzeichen meldet sich die Schulleiterin zu Wort.
Grenzen der Demokratie
Grenzen der schulischen Demokratie, sagt die Schulleiterin, liegen dort, wo Dinge nicht finanzierbar sind oder nicht den Sicherheitsbestimmungen entsprechen. Das Ende des Hügels jedenfalls bleibt beschlossene Sache. Der Hausmeister hat ihn mittlerweile entfernt. Laut Barbara Busch ein Stück Schwerstarbeit: Der Boden des Schulhofs war noch gefroren.
René de Ridder René de Ridder Redakteur Universum Verlag redaktion.pp@universum.de