Werte können sich nur im Medium wechselseitigen Vertrauens bilden. Dabei gilt der Grundsatz, dass die hierarchisch höher stehende Person Vertrauen nicht erwarten kann, sondern erwerben muss. Und das kann sie nur, wenn sie umgekehrt den Personen, die sie durch Orientierung und Unterstützung führt, einen Vertrauensvorschuss schenkt: Ich vertraue als Schulleitung darauf, dass die Lehrpersonen Aufgaben und Verantwortung übernehmen, ihre pädagogische Arbeit bestmöglich leisten und an Sinn und Zielen orientieren wollen. Ich vertraue als Lehrperson darauf, dass die Schülerinnen und Schüler die für sie bestmöglichen Leistungen erreichen, sich sozial verträglich verhalten und sich Ziele setzen wollen.
Diese Erwartungen sind die Voraussetzungen dafür, dass an der Schule eine Vertrauenskultur entsteht - und das Spannende ist, dass in dieser Kultur der Vertrauensvorschuss Vertrauen erzeugt und in der Regel auch bestätigt: Die Führungskraft hat ein positives Menschenbild und geht davon aus, dass Menschen zur Anstrengung bereit sind, wenn sie Aufgaben für bedeutsam und sinnvoll halten. Sie ermöglicht deshalb breite Gestaltungsspielräume, und das motiviert die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu, ihre Potenziale kreativ zu entfalten. Die Folge sind gute Leistungen und ein hohes Engagement - und diese bestätigen das positive Menschenbild. Umgekehrt gilt auch: Traut die Führungskraft wenig zu und gestaltet sie deshalb Führung und Kontrolle eng, demotiviert dies mit der Folge suboptimaler Leistungen und mangelnder Einsatzbereitschaft , was wiederum das negative Menschenbild verstärkt.
Diversität berücksichtigen
Den Vertrauensvorschuss brauchen alle Menschen in gleicher Weise. Das heißt aber nicht, dass die damit verbundenen Erwartungen gleich sind. Denn Wertschätzung ist nur wirksam, wenn sie sich auf die individuelle Einzigartigkeit von Menschen bezieht und den Betroffenen das Gefühl vermittelt, dass sie als Personen mit ihrer Berufsund Lernbiografie, ihren Überzeugungen und ihrem Leistungsvermögen der Führungsperson wichtig sind. Die individuell unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen, Fähigkeiten und Lebenslagen zu berücksichtigen hat zur Folge, dass nicht alle Lehrpersonen und ebenso nicht alle Schülerinnen und Schüler gleich, sondern individuell ungleich behandelt werden, um gleiche Voraussetzungen überhaupt erst herzustellen. Deshalb sind alle generellen Beurteilungsrichtlinien - ob auf Lehrpersonen oder auf Lernende bezogen - mit der Gefahr von Demotivation verbunden.
Damit die Ungleichbehandlung im Sinne eines Nachteilsausgleichs nicht als unfair erlebt wird, muss sie transparent kommuniziert werden. Denn nicht nur die Schulleitung, sondern alle Lehrpersonen - und nicht nur die Lehrperson, sondern alle Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe - müssen akzeptieren, dass das Kollegium beziehungsweise die Lerngruppe heterogen ist. Die Zufriedenheit mit der eigenen Leistung und das Erleben von Kompetenz und Selbstwirksamkeit prägen sich umso stärker aus, je klarer Diversität als Chance genutzt wird. Sind dagegen alle Personen in der Schule gleich gültig, weil ihre individuelle Einzigartigkeit nicht wahrgenommen wird, dann sind sie auch gleichgültig. Die Anerkennung von Heterogenität und Diversität ist deshalb eine grundlegende Voraussetzung für eine Kultur der Wertschätzung.
Eigensinn und Dissens
Diversität und individuelle Einzigartigkeit anzuerkennen ist zudem erforderlich, um mit dem Eigensinn aller Beteiligten wertschätzend umgehen zu können. Das ist für die Führungspersonen schwierig; denn sie sind verpflichtet, den Ordnungsrahmen durchzusetzen und Regelverstöße zu sanktionieren, während der Eigensinn in einem Spannungsverhältnis zu genau diesem Ordnungsrahmen steht. Zugleich aber sind die Führungspersonen auf den Eigensinn angewiesen, denn er ist die Quelle von Motivation, Energie und Engagement. Findet er keine Anerkennung, dann mögen zwar die Abläufe in der Schule hervorragend funktionieren, weil sich alle an die Regeln halten - aber sie erstarrt, statt Vielfalt in einer lebendigen Organisation zu ermöglichen. Der Eigensinn bereitet zudem Schwierigkeiten, weil er im Widerspruch zur Orientierung an gleichsinnigen - Übereinstimmung verlangenden - Werten und Zielen steht. Kommt es als Folge zu Dissens, zeigt sich Wertschätzung dort, wo ein Konsens nicht erzwungen wird. Vielmehr wird Raum dafür geschaffen, dass die unterschiedlichen Überzeugungen, zum Beispiel in Austauschforen, geäußert und Sichtweisen miteinander abgeglichen werden können. Bleibt es nach diesem Abgleich bei einem Dissens, muss geklärt werden, wie die Schule mit ihm umgeht. Das kann beispielsweise heißen, dass einzelne Lehrpersonen oder Lehrergruppen neue Vorhaben erproben dürfen oder dass Spielräume für Abweichungen ausgehandelt werden.
Allerdings: Nur wer sich selbst ernst nimmt, kann erwarten, von anderen ernst genommen zu werden. Wer zum Beispiel das Ziel hat, Schülerinnen und Schüler bestmöglich zu fördern, und der Überzeugung ist, dass der Lehrervortrag dafür am besten geeignet ist, muss bereit sein, sein Unterrichtskonzept zu verändern, wenn die Evaluation zeigt, dass kooperatives Lernen zu besseren Lernergebnissen führt. Und wer auf Beteiligungsmöglichkeiten verzichtet, muss bereit sein mitzutragen, was in Lehrergruppen und -konferenzen vereinbart worden ist. Auf diese Weise entsteht Verbindlichkeit im Prozess: Wenn alle die Möglichkeit haben, ihre Sichtweisen und Bedenken einzubringen, müssen sie dann auch zur Loyalität bereit sein. Wertschätzung steht im Gegensatz zur Abwertung. Diese äußert sich einerseits als Überfürsorglichkeit, indem die Führungsperson Unterstützung ohne Gegenleistung gewährt und den Kolleginnen und Kollegen ihre Probleme abnimmt, statt sie zu beraten, wie sie selbst ihre Probleme lösen können. Sie äußert sich andererseits in der Kritik an der Person statt an deren Fehlverhalten oder an Qualitätsmängeln ihres Handelns.
In beiden Fällen hat das Führungshandeln zur Folge, dass die andere Person keine Verantwortung für ihr Handeln übernehmen kann und muss. Wertschätzung setzt dagegen voraus, dass ich einer anderen Person etwas zumute, weil ich es ihr auch zutraue. Und wenn in einem Kritikgespräch die betroffenen Lehrpersonen und die Lernenden der Überzeugung bleiben, dass ihr Verhalten richtig war, akzeptiere ich das, nenne aber auch die Konsequenzen, für die sie dann die Verantwortung übernehmen müssen. Dass das eigene Handeln Folgen hat und dass jede beziehungsweise jeder - ob Lehrperson oder Schülerin beziehungsweise Schüler - bereit sein muss, für diese Folgen einzustehen und Verantwortung zu übernehmen, ist das Merkmal reifer und gesunder Persönlichkeiten - und eine Kultur der Verantwortung ist demgemäß das Merkmal einer reifen und gesunden Schule.
Adolf Bartz Adolf Bartz ist der ehemalige Leiter des Couven Gymnasiums, Aachen.