In dem Maße, wie Ansätze von Schulentwicklung Konjunktur haben, entsteht Vielfalt, aber auch Unübersichtlichkeit und Mitläufertum. Fast jede Maßnahme von Politik und Verwaltung, sogar Sparmaßnahmen, wird Schulentwicklung genannt. Fast alle, die mit Schulen arbeiten, Lehrkräfte fortbilden oder beraten, nennen sich Schulentwickler. Der Begriff erscheint ebenso populär wie inflationär. Es stellt sich zunehmend die Frage: Was ist eigentlich Schulentwicklung?
Schulentwicklung geht davon aus, dass die Entwicklung von Einzelschulen Vorrang hat vor der Entwicklung des Schulsystems. Diese Prioritätensetzung ist doppelt konzipiert - einmal als zeitliche Priorität in dem Sinne, dass Schulentwicklung auch in den Einzelschulen beginnen soll, und zum anderen als Sachpriorität, die in der Entwicklung von Einzelschulen die eigentliche Basis sieht und nicht eine vom Gesamtsystem angeordnete Aktivität. Folgerichtig besteht der Kern der Schulentwicklung (SE) in der Entwicklung von Einzelschulen. Dieses Modell ist Schritt für Schritt entstanden. Es begann mit Organisationsentwicklung (OE). Unterrichts- und Personalentwicklung (UE, PE) kamen hinzu, so dass man heute von einem Drei-Wege-Modell oder einer Trias der Schulentwicklung spricht.
Drei-Wege-Modell
Denkt man in Systemzusammenhängen, dann führt jeder Weg der SE notwendig zu den anderen. Eine Schule kann zum Beispiel mit UE beginnen, wobei es sich normalerweise nicht um einen Neubeginn, sondern um eine Fortsetzung beziehungsweise Akzentuierung vorhandener oder doch angebahnter Entwicklungen handelt. Ob es dabei um überfachliches Lernen, erweiterte Unterrichtsformen oder Methodentraining geht: Jeder dieser Ansätze überschreitet die konventionelle Orientierung an einem Fach oder einer Lehrkraft und führt mit Konsequenz zu organisatorischen Veränderungen, die institutionell abgestützt werden müssen - also zu OE. Wer den Unterricht verändern will, muss mehr als diesen verändern. Das kann auf mehr Kooperation hinauslaufen oder auf mehr Teamarbeit.
Unterrichtsveränderung mag auch Kern des Schulprogramms werden. Auswirkungen auf das Lehrerhandeln sind unvermeidlich, weshalb vermutlich immer ein Bedarf an PE entsteht - sei es in Form von Coaching, Kommunikationstraining oder Hospitation. Gleichwertig ist die Entscheidung einer Schule, mit systematischer OE zu starten, also zum Beispiel Teamentwicklung zu betreiben. Wenn es sich um Teamarbeit in der Schulleitung handelt, ist PE vonnöten. Wenn sich die Teamarbeit auf Fachoder Jahrgangsgruppen bezieht, folgt daraus UE.
Schließlich könnte eine Schule auch bei der PE ansetzen, beispielsweise Supervisionsgruppen einrichten. Supervision im Sinne von Schulentwicklung müsste arbeitsbezogen sein, was wiederum auf Unterricht und sonstige Schularbeit (im Bereich von Schulkultur, Schulmanagement oder Erziehungsklima) im Sinne von OE verweist.
Man könnte diesen Systemzusammenhang auch bündiger formulieren: Keine UE ohne OE und PE, keine OE ohne PE, keine PE ohne OE und UE. Das Neue und Besondere in diesem Systemzusammenhang stellt allerdings OE dar: Ohne OE würde UE ebenso wenig wie PE auf das Ganze der Schule zielen und es bliebe bei modernisierter Lehrerfortbildung oder renovierter Schulpsychologie.
Nicht übersehen werden darf in diesem Zusammenhang, dass nicht UE im Zentrum steht und auch nicht OE oder PE. Im Zentrum von Schulentwicklung (wie im Zentrum von Schule überhaupt) stehen die Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler. Gelingende Schulentwicklung hat zum ultimativen Ziel, die Lerngelegenheiten der Schülerinnen und Schüler zu verbessern.
Dabei ist Schulentwicklung gut beraten, wenn sie von einem umfassenden Lernbegriff ausgeht. Lernen ist mehr als kognitives Lernen und auch mehr als fachliches Lernen. Zum Lernen gehört auch soziales, emotionales, überfachliches und ästhetisches Lernen, was Pestalozzi zu seiner klassischen Formel mit "Kopf, Herz und Hand" komprimiert hat.
Drei-Stufen-Modell
Schulentwicklung ist ein Lernprozess. Es geht dabei letztlich um die Einführung einer neuen Praxis durch Erfinden, Erproben oder Erneuern. Was immer der Fall sein mag, die Lernprozesse müssen vom Schülerlernen ausgehen und die Akteure dabei neue Einsichten gewinnen, ein anderes Verhalten zeigen, neue Wahrnehmungen machen, alte Routinen aufgeben oder neue schaffen.
Schulen entwickeln sich ständig, weil sich die Umweltbedingungen ändern. SE ist also alltäglich. Hinsichtlich des Begriffsverständnisses sind - abgesehen von der alltäglichen SE - drei Stufen zu unterscheiden:
1. SE ist die bewusste und systematische Weiterentwicklung von Einzelschulen. Man könnte diese häufig vorkommende Form von SE intentionale SE nennen oder SE erster Ordnung.
2. SE zielt darauf ab, Lernende Schulen zu schaffen, die sich zum Teil selbst organisieren, reflektieren und steuern. Dies wird von den jüngsten Schulgesetzen intendiert und von etlichen Schulen angestrebt, teilweise auch praktiziert. Dies könnte man als SE zweiter Ordnung oder institutionelle SE bezeichnen.
3. Die Entwicklung von Einzelschulen setzt eine Steuerung des Gesamtzusammenhangs voraus, welche Rahmenbedingungen festlegt, die einzelnen Schulen bei ihrer Entwicklung nachdrücklich ermuntert und unterstützt, die Selbstkoordinierung anregt, ein Evaluations-System aufbaut und im Nachhinein auf Distanz korrigiert. Dies könnte man als SE dritter Ordnung oder als komplexe SE begreifen.
Das Spezifische am Ansatz der SE als Entwicklung von Einzelschulen besteht nicht darin, den Gesamtzusammenhang in Frage zu stellen, sondern darin, den Gesamtzusammenhang wie dessen Konstruktion und Weiterentwicklung aus der Sicht der Einzelschulen zu betreiben. Lehrpersonen mögen sich eher auf der ersten Ebene, Leitungen auf der zweiten engagieren und Politiker sowie Behörden auf der dritten Ebene.
Wie kann Schulentwicklung wirksamer gemacht werden?
In Deutschland ist nach dem "Pisa- Schock" viel geschehen, auch Beachtliches. Es existieren allein für die Unterrichtsentwicklung mehr als 20 praktizierte Konzepte. Aber es dominieren Einzelmaßnahmen und viele davon erhöhen bloß den Druck auf Schulen und Schüler. Den Druck zu erhöhen ist verhältnismäßig kostengünstig und deshalb wohl auch so populär bei Ministerien und in der Öffentlichkeit, wirkt aber nicht oder kaum positiv auf Schülerleistungen. Das Motto müsste demgegenüber lauten: Weniger Stückwerk und Druck und mehr Ganzheitlichkeit und Unterstützung!
Ganzheitlichkeit setzt einen Dialog von innerer und äußerer SE voraus. Innere (Einzelschule) und äußere SE (Gesamtsystem) müssen zusammengebracht werden und zwar auf regionaler Ebene. Einzelschulen sind zwar der Motor der SE, aber sie haben als einzelne zu wenig Kapazität für Entwicklung. Wenn zum Beispiel Fachkonferenzen mehrerer Schulen an der UE arbeiten, ist das sowohl effektiver als auch stimulierender als wenn dies nur eine Schule betriebe. Auch sind Unterstützungsmaßnahmen wie Lehrerfortbildung oder Schulbegleitung kostengünstiger zu entwickeln und zu organisieren, wenn sie sich auf mehrere Schulen beziehen. Deshalb betonen auch Schulforscher, dass regionale Vernetzung eine Grundvoraussetzung für wirksame Schulentwicklung ist. Als Basiseinheit für derartig vernetzte Entwicklungsvorhaben haben sich komplette Regionen bewährt, die etwa einen Landkreis oder eine Großstadt umfassen.
Es ist davon auszugehen, dass die bisher zur Verfügung stehenden Ressourcen dafür nicht ausreichen (die Niederlande und die Schweiz z. B. geben ein Mehrfaches dessen aus, was deutsche Bundesländer für Unterstützungssysteme bereitstellen!). Deshalb müssen zusätzliche Ressourcen erschlossen werden - und zwar nicht nur im Landeshaushalt.
Grundidee von Schulentwicklung
Voraussetzung ist allerdings, die Grundidee von SE zu verstehen, was insbesondere Personen in den Behörden schwerfällt, die sich für die Steuerung der SE verantwortlich fühlen: SE geht von der Einzelschule aus. Man kann Schulen nicht direkt verändern, jedenfalls nicht von außen und nicht genau so, wie man sich das wünscht. Das kann Schulaufsicht nicht, das kann auch Politik nicht.
Das beste Wissen über bessere Schule oder besseren Unterricht weiterzugeben (Wissenstransfer) ist nicht der Königsweg der SE; denn Schulen entscheiden zum Großteil selbst, was sie mit dem Wissen machen. Wirksamer ist ein anderer Weg, nämlich der Aufbau von Entwicklungskapazitäten in den Schulen selbst, wie vor allem die Einrichtung von Steuergruppen und professionellen Lerngemeinschaften sowie Selbstevaluation.
Es gibt keine 1:1-Implementierung. Daran zu glauben, nennt man Steuerungsillusion. Schulen können und sollten auch Eigenes gestalten oder etwas "Nach- Erfinden", das zwar von außen angeregt und angestoßen wird, aber nicht aufgezwungen werden kann. Politik und Behörden können und müssen Schulen allerdings helfen, sich zu verbessern
Reformen verändern Schulen, aber Schulen verändern auch Reformen.
Hans-Günter Rolff ist em. Professor am Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund.
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