Wichtig für die Diagnose ist, dass die Symptomatik nicht nur in einem Lebensbereich festgestellt wird, also zum Beispiel nicht nur in der Schule. Die Diagnose stellt in der Regel ein Kinder- und Jugendpsychiater mit Hilfe einer gründlichen Befragung und Verhaltensbeobachtung, die durch Leistungstestung, Fragebögen und Verhaltensbeschreibungen aus verschiedenen Lebensbereichen, insbesondere aus der Schule ergänzt werden.
Wird bei einem Kind oder Jugendlichen die Diagnose ADHS /ADS gestellt, so ist heute eine multimodale Behandlung Standard, die sich aus therapeutischen, systembezogenen und medikamentösen Behandlungsmaßnahmen zusammensetzt. Die medikamentöse Behandlung ist dabei ein wirksamer Bestandteil, der in der Öffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert wird. Die meisten der eingesetzten Medikamente enthalten den Wirkstoff Methylphenidat, kurz MPH (bekannt z. B. unter den Produktnamen Ritalin®, Concerta®, Medikinet®, Equasym®).
Karin Küppers befragt den Kinder- und Jugendpsychiater Johannes Zinkler zu Behandlung, Wirkungsweise und ergänzender Therapie mit Methylphenidat (im Folgenden mit MPH abgekürzt).
Die in dem nachfolgenden Gespräch vertretene Position weicht von einigen der in dem Artikel "Wo die wilden Kerle wohnten" (DGVU pluspunkt, Ausgabe 3/2012) dargestellten Fakten und kritischen Überlegungen deutlich ab.
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Was bewirkt MPH?
Kaum ein Medikament mit Wirkung auf das Zentrale Nervensystem ist besser untersucht als MPH. Es verändert die Aktivität von Botenstoffen im Gehirn. Dabei geht es vor allem um den Botenstoff Dopamin, der in bestimmten Zentren des Gehirns bei Menschen mit ADHS unzureichend aktiv ist.
Das Medikament verändert konkret die Wahrnehmungsorganisation. Es wirkt damit genau auf das grundlegende Problem bei ADHS-Betroffenen. Reize werden besser aufgenommen und gefiltert. Das Kind ist dadurch zugewandter. Es kann sich länger konzentrieren und besser organisieren. Auch die Handlungen des Kindes werden geplanter, da es nicht mehr so schnell durch andere Reize abgelenkt ist. Es ist keine Ruhigstellung des Gehirns.
In der Regel wirkt es ab dem ersten Tag der Gabe für zirka vier Stunden. Die Retardkapseln, bei denen der Wirkstoff verlangsamt freigesetzt wird, wirken je nach Präparat sechs bis zwölf Stunden. Wenn es abgesetzt wird, ist auch die Wirksamkeit beendet, somit auch eventuell Nebenwirkungen.
Wie sinnvoll ist eine Behandlung mit MPH?
Man kann einfach sagen, die ständigen Frustrationen durch die Misserfolge und Ermahnungen sind für Kinder mit ADHS / ADS eine erhebliche seelische Belastung. Die Kinder geraten in einen Teufelskreis von Unlust, Verweigerung, zunehmende Anspannung und Verweigerung auf erzieherische Reaktionen.
Bei deutlich ausgeprägten Symptomen ist eine Behandlung mit MPH meistens sinnvoll, da keine andere Behandlungsmethode diesen Teufelskreis so wirksam und schnell unterbrechen kann wie die Medikation.
Oft kann nur durch die Medikation der Verbleib in der Schule sichergestellt werden. Die soziale Integration wird verbessert. Der innerfamiliäre Stress, vor allem durch Probleme bei den Hausaufgaben, wird durch die Medikation deutlich reduziert. Es bestehen sehr gute Chancen, dass das Kind, bei Einsatz eines MPH wieder in eine positive Entwicklungsphase gebracht werden kann, wenn andere Maßnahmen hinzukommen. Völlig unsinnig wäre es bei Einsatz des MPH, andere therapeutische und pädagogische Maßnahmen ruhen zu lassen. Andersherum gesagt: Die Medikation in Kombination mit anderen Maßnahmen sichert größtmögliche Erfolge.
Viele Kinder, die diese Verhaltensweisen an den Tag legen, strengen sich sehr an, nicht aufzufallen. Sie erleben ständig Frustrationen, weil sie irgendwo anecken, vieles nicht mitbekommen, in Streit geraten, nicht leise sein können. Auch wenn sie sich noch so anstrengen, fallen sie immer wieder auf und erleben sich so in einem immerwährenden Teufelskreis. Auch die Familien leiden. Eltern fühlen sich überfordert, in Frage gestellt und kritisiert. Sie fühlen sich nicht selten als Versager, stellen ihre eigenen Erziehungskompetenzen in Frage. Der Druck, den die Eltern und Kinder aus der Schule oft erleben, ist nicht zu unterschätzen. Viele Familien erleben mit Hilfe von Beratung und Medikation erstmals in ihrem Leben mit ihrem Kind so etwas wie Entspannung.
Dabei nimmt das MPH quasi die Spitzen des Verhaltens, die Familie kommt zur Ruhe. Dies macht eine selbstgesteuerte Verhaltensveränderung oft erst möglich.
Wer verschreibt das Medikament?
Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinderärzte, die sich im Bereich ADHS spezialisiert hat.
Kann es auch vom Kinderarzt verschrieben werden?
Ja. Er sollte aber über vertiefte Kennnisse über Diagnostik und Therapie von ADHS verfügen.
Mit welchen Nebenwirkungen ist bei MPH zu rechnen?
Sehr oft kommt es zu einer Hemmung des Appetits, solange das Medikament wirkt. In der Regel holen die Kinder ihren Appetitmangel aber dann am Abend nach, wenn das Medikament nicht mehr wirkt. MPH kann Schlafstörungen verursachen. Auch leichte depressive Reaktionen können auftauchen. Andere Nebenwirkungen treten eher selten auf. Insbesondere sind nach über 50-jähriger Anwendung und Erforschung des Medikamentes wissenschaftlich keine langfristigen Nebenwirkungen aufgefallen.
Um Verlauf, Wirkung und Nebenwirkungen gut zu im Blick zu haben, ist eine regelmäßige fachärztliche Kontrolle notwendig, um gegebenenfalls Dosisanpassung oder Veränderung der Medikation vorzunehmen. Dazu gehören unter anderem auch Puls- und Blutdruck-, Gewichts- und Längenwachstumskontrolle. Eine vernünftige Anleitung und Begleitung der Medikation von Seiten des Arztes ist sinnvoll.
MPH macht nicht abhängig. Es kann jederzeit ohne Entzugssymptome wieder abgesetzt werden.
Welche Gesamttherapie ist für solche Kinder sinnvoll?
Standard ist heute eine multimodale Behandlung, die verschiedene Methoden miteinander verbindet. Intensive Aufklärung und Beratung der Eltern, spezifische Anpassung der Pädagogik an die Bedürfnisse des ADHS-Kindes zuhause und in der Schule. Zusätzlich sind Gruppentrainings zur Konzentration und Aufmerksamkeit oder Verhaltenstherapie für das Kind sinnvoll, in denen das Kind lernt, eigene Impulse zu steuern und alternative Handlungsmuster erlernen und ausprobieren kann.
Auch die Familie lernt, mit den Verhaltensmustern des Kindes und den "eingeübten" Reaktionen umzugehen. Neue Muster können ausprobiert und erlernt werden. Die negativen Fehlentwicklungen werden reduziert, außerdem werden negative Folgen auf das Selbstwertgefühl und auf die Sozialentwicklung verhindert. Die Eltern erleben eine Hilfestellung beim Umgang mit Grenzen und Regeln und zur Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung. Oft werden auch Schule und offene Ganztagsschule miteinbezogen, damit alle quasi "an einem Strang ziehen" können. Bei vorliegenden Wahrnehmungsproblemen kann Ergotherapie sinnvoll sein.
MPH ist dabei nur ein Baustein der Gesamttherapie.
All das sind Bausteine und man muss schauen, welches die geeignete Kombination ist. Natürlich kann ein ADHS auch ohne MPH behandelt werden, insbesondere sind Aufklärung, Anleitung von Eltern und Lehrern, Anpassung der Pädagogik an die speziellen Anforderung des ADHS-Kindes, Psychotherapie, Gruppentraining, Verhaltenstherapie, Ergotherapie sinnvoll. Es gibt immer wieder Hinweise, dass Diäten, Nahrungsergänzungsmittel oder homöopathische Behandlungen auch positive Effekte haben. Diese lassen sich jedoch meist nicht wissenschaftlich belegen. Sport ist in jeden Fall ein gutes Ventil für den Bewegungsdrang dieser Kinder.
Durch regelmäßige ärztliche Kontrollen wird die Wirksamkeit überprüft. In einem ärztlich angeleiteten Auslassversuch, der während der Schulzeit stattfindet, kann man sehen, ob und wie sich das Verhalten des Kindes ohne Medikament verändert. Bei dem Versuch ist der Arzt auf Rückmeldung von den Eltern und aus der Schule angewiesen.
Wer MPH mit ins Ausland nehmen möchte, erhält eine internationale Bescheinigung des Arztes, die auch vom Gesundheitsamt gegengezeichnet wird.
Kinder mit AHDS reagieren sehr sensibel auf unzureichende Strukturierung. Sie profitieren in sehr hohem Maße von einer guten Strukturierung des Unterrichts, einer engen und positiv getönten Anleitung durch eine präsente Lehrerpersönlichkeit. Die Motivation und Mitarbeit des Kindes ist sehr stark abhängig von der Beziehung zum Lehrer. Kleinere Lerngruppen sind für diese Kinder mit Reizfilterschwäche auf jeden Fall hilfreich. In jedem Fall profitieren ADHS-Kinder, wenn die Pädagogik von Lehrern und Eltern aufeinander abgestimmt ist.
Karin Küppers ist Dipl.-Sozialpädagogin, systemische Familientherapeutin (SG) Heilpraktikerin (Psychotherapie).
Johannes Zinkler ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, systemischer Therapeut und Supervisor.